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Herbert Engemann: Kriegsende und Kriegsgefangenschaft

Dieser Beitrag wurde von Herbert Engemann (1923-2016) in den 1990er Jahren verfasst.

[Herbert Engemann befindet sich zu Beginn seines Berichts, Anfang Mai 1945, in Polen.]

Ja, und dann kam der 7. Mai auf den 8. Mai. Da hieß es, sofort das Nötigste zusammengepackt, wir kommen nach Dänemark.

Oh, das war eine Freude! Dann kamen wir auf so eine Brame. Über Nacht fuhren wir dann nach Hela [Polen, Halbinsel im Nordwesten der Danziger Bucht] hinüber. Das Wasser spritzte. Die Fahrzeuge waren so eine Art Flöße. So kommen wir nach Hela. Da sehen wir schon die Schiffe am Hafen und die Leute fliehen auf die Schiffe, Frauen, Kinder, ein Flüchtlingstreck. Wir gehen also in das Innere der Insel, treu und brav, sind kaum da, heißt es: „Zurück in den Hafen.“ Wir laufen wieder zurück in den Hafen. Da standen wir nun im Hafen, 30.000 bis 40.000.

Kapitulation der Wehrmacht

Drei Torpedoboote waren noch da. Die Leute hingen am Anker, an den Funkmasten, an jeder Ecke, wo man sich anklammern konnte, hing einer. Die Schiffe waren von Trauben von Menschen behangen! Schließlich fuhren sie ab. Und die ersten stürzten ins Wasser.

Und dann wurde eine Zeitung aus der Regimentsdruckerei verteilt. „An das deutsche Volk, General usw. ... Deshalb ruhen an allen Fronten die Waffen. Die deutsche Wehrmacht hat kapituliert. Leider war es uns nicht möglich, aus den Händen des Bolschewismus usw. ... zu befreien ... Aber Deutschland wird weiterleben ...“

Und da erinnere ich mich ganz genau an mein Gefühl. Das war, als wenn mir die Kraft aus meinem Körper an den Zehen rausfließen würde. Totaler Frust.

Erst gingen wir mal in das Innere des Landes zurück. Es ließ sich gar kein Russe blicken. Dann klopften wir noch einen Vorbeimarsch vorm russischen General. Die vergewaltigten Frauen von Danzig standen am Bürgersteig, heulten. Die Leute mit grünen Mützen, die Russen sagten: „Ihr kommt nach Sibirien!“ „Ach, wir kommen nicht nach Sibirien“, hieß es, „Ihr kommt alle nach Hause,“ sagten wieder andere.

Das Kriegsgefangenenlager von Deutsch-Eylau

So kamen wir dann ins Lager Deutsch-Eylau [in der Woiwodschaft Ermland-Masuren, Polen]. 40.000 lagen da oder 50.000. Dann kamen die Leute vom Nationalkomitee „Freies Deutschland“ und haben sich um uns gekümmert. Die gaben uns zum ersten Mal Nachrichten, die wir nicht kannten, über die Oder-Neiße-Linie, über Auschwitz.

Auf dem Marsch nach Deutsch-Eylau hatte ich noch überlegt, soll ich meine tschechische Pistole behalten oder nicht? Sollen wir uns durchschlagen? Wenn uns der Russe durchsucht und findet die Pistole, erschießt er uns sofort. Durchschlagen ging gar nicht. Wir wussten nur, dass die Russen vor Berlin waren. Ach, wir kommen ja doch alle nach Berlin, kommen alle nach Hause!

In diesem großen Gefangenenlager von Deutsch-Eylau habe ich also zum ersten Mal die Nachrichten gehört. Wir sind nicht geflohen, sondern haben uns sogar noch gerissen, so schnell wie möglich abtransportiert zu werden.

Der Weg in die Kriegsgefangenschaft

Wir kamen dann in einen Zug mit großer, breiter Spur. Und da hatten wir schon Angst. Denn die Russen hatten die breiten Spuren. Aber dann sagte man uns: „Ach ja, diese Breitspur die geht nach Berlin. Ist ja klar, wenn die Berlin erobert haben, haben sie auch eine breite Eisenbahnspur dahin gelegt.“

So fuhren wir etwa vier, fünf Stunden, und dann hielt der Transport. Und dann ging es wieder ins Lager zurück, aus irgendeinem Grunde waren wir noch nicht dran. Da waren wir sehr enttäuscht, dass wir nicht abtransportiert wurden. Wir haben uns wieder gemeldet und kamen endlich in einen Zug mit Güterwaggons. Ein paar Brettergestelle waren darin, dass man übereinander schlafen konnte. Die Bretter hatten große Zwischenräume, so dass man eine höchstens 40 cm breite Liegefläche hatte. Dann gab es einen Eimer für die Bedürfnisse. Es sah nicht sehr einladend aus. Aber wir gingen hinein, und dann rollte der Zug und rollte und rollte und rollte und rollte ... Und als ich dann etwa nach 20 Stunden mal durch das Fenster bzw. durch so einen Ritz geschaut habe, sah ich die Steppe. Und da wusste ich, diesmal geht es nach Osten wieder zurück, geht es nicht nach Berlin. Es geht nach Osten.

Dann fuhren wir so drei, vier Tage, fast eine Woche. Es gab immer nur Zuckerrübenschnitzel zu essen. Man war schon halb gerädert und bekam auch schon Fieber von dem schlechten Essen. Es gab mageres Trinken und schlechtes Liegen.

Ankunft im Lager Bezhitsa

Und dann stiegen wir aus. In der Nähe von Brjansk in dem Lager Bezhitsa, so hieß der Ort. Dort mussten wir uns sammeln und kamen in ein Lager, das so schnell gebaut worden war, große Baracken mit ganz dünnen Holzwänden. Die Wände hatten 3 bis 4 cm Zwischenraum. Da pfiff der Wind durch, und es war schon Oktober! Und es fing an zu schneien und es war hundekalt. Wir hatten einen einzigen Ofen für 50 m Eisfläche. Einen kleinen, aus Lehm gebauten Ofen mit kleiner Feuerung.

„So groß war der Hunger!“

Wir bekamen fast nichts zu essen. Eine warme Suppe gab es, aber da war überhaupt kein Fleisch oder Fett darin. Alle 14 Tage durften wir Brot holen. Dann sind wir drei oder vier Kilometer marschiert, haben das Brot unter den Arm genommen, unter jeden Arm ein Brot, und haben schon immer hineingebissen vor lauter Hunger. Es gab eine Scheibe Brot am Tag. Ich hatte vor lauter Hunger einen Trick erfunden: Ich hab meine Suppe halb leer gelöffelt und dann Wasser dazu geschüttet. Oder ich habe Sand rein getan, bin dann wieder zur Küche hin und hab gesagt: „Ist ja Sand drin!“ „Ach so, ja schütt' aus.“

Dann bekam ich noch einen Nachschlag. Aber das hat dann mal ein rumänischer Lagerpolizist gesehen. Die Lagerpolizisten wurden von den Rumänen gestellt, später waren es sogar Österreicher. Das war besonders bitter, als nach einem halben Jahr uns auf einmal Österreicher bewachten, die „Hitler nie gekannt hatten“. Da hat er mir eine Watsche gehauen, dass meine Brille fast in die Toilette fiel.

In dieser Toilette, wo unten alle diese Fäkalien lagen, krochen zeitweise Rumänen und haben versucht, Erbsen und Bohnen, die nicht verdaut waren, raus zu holen und nochmal zu kochen. So groß war der Hunger! Hinzu kam, dass wir uns nicht waschen konnten. Ich habe mich ein Vierteljahr, von Oktober bis [zum] 31. Dezember, nicht waschen können! Da war der Dreck richtig in den Körper eingefressen. Mein Hemd bestand nur noch aus den Revers, den zwei Taschen und dem Kragen. Wenn man das auf den Boden warf, dann kroch es von allein vor lauter Läusen.

Im Krankenrevier

Ja, und jetzt die Frage, wie überlebt man nun in so einer Situation? Ich wurde krank, bekam eine Bronchitis und kam in ein so genanntes Revier. Da lagen die Kranken alle, im Wesentlichen zum Sterben. Wenn einer gestorben war, dann wurde er in die Decke gehüllt und weggetragen. Aber ein Sanitäter war mein Freund. Er hieß Günter Salmann aus Schwerin. Er war da Sanitäter, war noch sehr jung. Und wenn da einer gestorben war, bekam ich dessen Brot. So konnte ich mich über Wasser halten. Ein österreichischer Unterarzt aus Salzburg, der erfuhr, dass ich Abiturient war – der muss so eine Vorstellung gehabt haben, dass Abiturienten nicht zu sterben haben, die haben den Staat also so viel gekostet oder waren noch wichtig – hat jedenfalls jedes Mal dem russischen Arzt gesagt: „Der muss noch liegen bleiben.“ Und so blieb ich dann schon mal drei Wochen im Revier und bekam was zu essen.

„Beschäftigungstherapie“

Zwischendurch habe ich ein anderes Erlebnis gehabt. Ich musste also wieder arbeiten. Da sie aber keine richtige Arbeit für uns hatten, war es also eine Beschäftigungstherapie, ein riesiges Loch auszuheben. Im Sandboden war das ziemlich leicht. Man hatte Tragen, auf die kam der Sand. Dann haben zwei Mann die Trage gefasst und gezogen und den Sand da irgendwo aufgeschüttet. Das Loch sollte ein großer Lagerkeller werden.

Die Toten begraben

Einmal kam ein Auto angefahren, ein LKW mit einem Russen, der sagte: „Zwei Mann, kommt mal her!“ Au, da dachten wir, es gibt vielleicht was zu essen! Da stiegen wir dann rauf auf den Wagen – und sahen dann den toten Soldaten. Den sollten wir begraben. Er fuhr mit uns raus. Wir mussten ein Loch graben. Dann hat er drauf bestanden, dass wir den Kopf des Toten nach Osten legen. Ich hatte ihn erst andersherum gelegt, da hat er mich geschimpft: „Nein, Kopf nach Osten.“

Aber nun wollte er auch die Decke haben. Die war natürlich verschmutzt und dreckig. Aber der Russe wollte die Decke haben. Da mussten wir ihn aus der Decke auswickeln. Mit dem Kopf nach unten platschte er dann so in das Loch, und wir haben ihn zugeschüttet.

In der Umgebung von dem Lager lagen überall Menschenknochen. Es war in der ersten Zeit unserer Gefangenschaft, da starben die wie die Fliegen. Das war nicht direkt beabsichtigt. Wir sind nachher dahintergekommen, dass die Russen selbst nichts zu essen hatten. Nach einiger Zeit haben sie uns beneidet, dass wir regelmäßig Brot bekamen. Das ist Faktum gewesen, nicht unbedingt Ausrottungspolitik.

Und dem Lager merkte man an, dass es alles nicht richtig geplant war. Das Lager wurde schließlich wieder aufgelöst. Es waren immer weniger Gefangene dort. Zum Schluss waren es nur noch 20, 25.

Zur Person

Herbert Engemann wird 1923 im oberschlesischen Hindenburg (Zabrze) geboren. Nach Abitur und Kriegseinsatz gerät er 1945 in russische Kriegsgefangenschaft, aus der er 1949 entlassen wird. Anschließend studiert er in Göttingen Latein und Geschichte. Das Studium schließt er mit einer Promotion ab. Nach dem Referendariat in Dortmund arbeitet er ab 1958 als Lehrer am Gymnasium Marianum in Warburg. 1974 wird er Schulleiter des Städtischen Gymnasiums Brakel (ab 1982 Petrus Legge-Gymnasium). Neben seiner beruflichen Tätigkeit forscht und publiziert er zu verschiedenen Themen der Stadtgeschichte Brakels, insbesondere zur Geschichte und zum Untergang der jüdischen Gemeinde der Stadt. Er trägt zur Gründung des Stadtmuseums Brakel bei sowie zur Errichtung eines Gedenksteins für jüdische Bürgerinnen und Bürger der Stadt, die während der NS-Zeit ermordet wurden. 1996 wird ihm das Bundesverdienstkreuz am Bande verliehen. Herbert Engemann stirbt im September 2016 in Calden.

Empfohlene Zitierweise:
Engemann, Herbert: Kriegsende und Kriegsgefangenschaft, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/herbert-engemann-kriegsende-und-kriegsgefangenschaft.html
Zuletzt besucht am: 19.04.2024

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