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Werner Mork: Sorge vor dem Winter 1945

Dieser Eintrag wurde von Werner Mork (*1921) im Dezember 2008 in Kronach verfasst. Werner Mork schildert seine Erinnerungen in sechs Beiträgen.

Sorgen im ersten Friedenswinter

Als der Herbst 1945 Einzug hielt und der Winter vor der Tür stand, begann die Zeit, in der bei den Menschen die Sorge um Brennmaterial groß wurde - vor allem auch, weil es völlig offen war, was über Bezugscheine "aufgerufen" werden würde. Es war zu erwarten, dass es nicht viel an Zuteilung geben würde. Wo sollten Kohlen und Briketts auch herkommen? Das, was im Ruhrgebiet noch gefördert wurde, war nicht sehr viel und davon wurden in erster Linie die Besatzungsmächte versorgt, und das mit mehr, als die überhaupt brauchten. Der "Rest" fiel unter die "Bewirtschaftung" und wurde über die Bezugscheine zugeteilt, und der reichte nicht, um die Bevölkerung ausreichend zu versorgen.

Ich wohnte mit meiner Frau bei meinen Schwiegereltern in Lesum, und wir mussten nun überlegen, was man an Eigenhilfe tun könne, um vor allem den Herd in der Küche als wichtigste Feuerstelle im Haus und "etwas" auch die kleinen Öfen im Wohnzimmer der Schwiegereltern und in unserem Wohnbereich heizen zu können.

Weil Kohlen und Briketts kaum zu erwarten waren, wurden vom Lesumer Ortsamt Berechtigungsscheine ausgegeben, die dazu berechtigten, im Knoops Park selber Bäume zu schlagen, in der jeweils zugestandenen Menge. Diese Bäume waren durchweg zwar nur Bäumchen, aber immerhin war es Holz, mit dem man heizen konnte. Der Abtransport musste auch selber vorgenommen werden, wobei dann immer wieder versucht wurde, illegal "besorgtes" Holz mit aufzuladen, in der Hoffnung, man würde ohne Kontrolle davon kommen, was sehr häufig nicht der Fall war. Dann gab es die gefürchteten Anzeigen wegen Diebstahls.

Großes Elend

Aber ob Recht oder Unrecht, danach fragte in dieser Zeit keiner mehr, selbst die bravsten Bürger scheuten sich nicht, auch mit Hilfe von Diebstahl sich etwas von dem zu verschaffen, was nötig war, um diese Zeit einigermaßen zu überstehen und so gut es gehen würde, in die hoffentlich einmal wieder bessere Zeit zu kommen. Alle wollten doch leben, alle wollten doch auch diesen so genannten Frieden überleben und nicht jetzt noch ein Opfer des überstandenen Krieges werden, nicht jetzt noch krepieren müssen. Nur war es leider so, dass das nicht allen Menschen möglich war, es gab vor allem in dem Winter 1945/46 sehr viele Tote, die an Hunger und Kälte starben, auch weil es viele Menschen gab, die nicht in der Lage waren, sich irgendwie einigermaßen ausreichend zu versorgen. Das Elend war in vielen Fällen so groß, dass es auch zu Selbstmorden kam. Die Verzweiflung war oftmals wirklich so grenzenlos, dass manche Menschen nicht mehr weiter leben wollten, auch weil sie es nicht mehr konnten. Von einem normalen Leben konnte keine Rede mehr sein, es gab für die Mehrheit nur noch ein Vegetieren. Gelebt wurde nur noch von einem Tag zum anderen, wobei die Hoffnungslosigkeit immer größer wurde.

In dieser Lage war es kein Wunder, dass die "neue Freiheit", die nun mögliche Demokratie, nicht gerade als das neue Ideal und Lebensziel sich in den Köpfen der gequälten Menschen breit machte, schon gar nicht bei den Menschen der "breiten Masse" und überhaupt nicht bei den Frauen und Mütter, die wieder einmal die Hauptlast aller Sorgen und Schwierigkeiten zu tragen hatten. In diesen Köpfen war kein Platz für einen neuen Aufbruch in einer freien Demokratie, da gab es keine stürmische Zustimmung oder gar Begeisterung, da ging es nur ums Fressen und ums Durchkommen, da gab es keine Moral, gleich in welcher Hinsicht, und kein neues politisches Bewusstsein. Es ging nur um das nackte Überleben. Viele Menschen in der heutigen Zeit können das nicht verstehen, sich auch nicht vorstellen und neigen dazu, wenn darüber geredet wird, das einfach abzutun nach dem Motto: Das war die Folge der eigenen Schuld, also nicht klagen, ihr seid ja nicht unschuldig gewesen.

Gebeutelte Generation

Diese "Schuldigen" waren Angehörige der Generation, die schon einmal harte Zeiten hatte durchmachen müssen, damals nach dem Ersten Weltkrieg in der Weimarer Republik. Sie hatten dann, nach 1933, wieder Zuversicht und Vertrauen gefasst zu den "Führern", die sie dann in das neue Elend geführt hatten. Diese so sehr gebeutelte Generation war nun wieder in einem Zustand tiefster Hoffnungslosigkeit und voller Depressionen. Dabei hatte sie nun auch ihre Schuld am Geschehen zu tragen und sich auch als wirklich Schuldige zu fühlen. Das wurde ihr in dieser Zeit auch sehr deutlich gemacht von den Besatzungsmächten, die angeblich als "Befreier" vom Nazi-Joch gekommen waren, das demnach doch auf den Menschen gelastet haben musste, aber auch von denen, die sich als Antifaschisten bezeichneten, auch wenn manche von ihnen keine waren, sondern im "Strom dieser Zeit" mitschwammen. Ab und zu wurden zwar einige als "Falschspieler" entdeckt, aber es waren nur einige. Weil wir, die anderen, also alle schuldig waren, hatten wir unserer Schuld zu tragen und dabei zu hungern und zu frieren, weil es angeblich keine guten Versorgungsmöglichkeiten gab, selbst wenn man gewollt hätte - so hieß es oftmals. Und das alles ohne Rücksicht auf Mütter und Kinder, ohne Rücksicht auf Alte und Kranke. Die so genannten Sonderrationen für diese Menschen standen meistens nur auf dem Papier der Lebensmittelmarken und der Bezugscheine, und wurden kaum in voller Höhe aufgerufen.

Im Herbst 1945 waren die Menschen im Rest-Deutschland von einer großen Angst befallen vor dem kommenden Winter, der wie eine Drohung wirkte und nichts mit Winterfreuden zu tun haben würde, die früher den Winter zwar als eine kalte, aber dennoch schöne Jahreszeit erschien ließ, nicht nur wegen Weihnachten. Zwar war auch in den dreißiger Jahren von vielen Menschen in der Republik die Winterzeit mit einem großen Bangen erwartet worden, aber jetzt, in diesem ersten "Friedens-Winter", würde für alle Menschen im ehemaligen Deutschen Reich ein schlimmes Hungern und Frieren heranbrechen, in einem Maße, wie sie es noch nie erlebt hatten. Das war den Menschen sehr bewusst, weil ein jeder wusste, dass keine Aussicht auf Besserung der Lebensverhältnisse bestand.

Zur Person

Werner Mork wird am 3. Juli 1921 in Vegesack (Bremen) geboren. Er besucht die Volksschule. Der Besuch des Realgymnasiums bleibt ihm nach eigener Aussage aufgrund der gewerkschaftlichen Tätigkeiten seines Vaters verwehrt. Werner Mork macht eine Ausbildung zum Radioverkäufer. Ab 1940 leistet er Arbeitsdienst in Worpswede, anschließend ist er beim Militär in Hannover. Nach dem Zweiten Weltkrieg macht er sich mit einem Radiogeschäft selbstständig. Immer wieder ist er durch Krankheit beeinträchtigt. In den 1960er Jahren zieht er nach Kronach (Bayern), um dort bei Loewe zu arbeiten und geht schließlich im Alter von 63 Jahren in Rente.

Empfohlene Zitierweise:
Mork, Werner: Sorge vor dem Winter 1945, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/werner-mork-sorge-vor-dem-winter-1945.html
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