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Detlef Sennholz: Reisesehnsucht eines Ostdeutschen

Dieser Beitrag wurde von Detlef Sennholz (*1950) 2020 verfasst.

Erfahrungen mit der Grenze

Mai—Juni 1961: Onkel Heinrich im Heimatort Weißenfels stammte aus Hannover und plante wieder seinen Verwandtenbesuch dorthin. Ich fragte ihn, ob er mich nicht mal mitnehmen könnte. Seine Antwort: "Du bist mit 10 Jahren dafür noch zu jung, eventuell Ende 1962, wenn du 12 Jahre alt bist". Aber kurz später am 13.8. wurde die Mauer gebaut, auch für ihn länger keine Reise mehr.

Fasziniert vom Amazonasgebiet

1962—63: Als Leser der Stadtbibliothek fand ich mehrere Reisedokumentationen eines Naturforschers aus der CSSR [Tschechoslowakische sozialistische Republik] über das brasilianische Amazonasgebiet, die mich sehr faszinierten. Ich wollte dorthin, aber nicht allein. Meinen besten Schulfreund, Clauspeter, eingeweiht in diesen "Traum". Leben dort von der Natur, aber wie die Reise finanzieren. Ich glaube schon in der Schule wurde uns eingebläut, "Alle die nicht in Volkseigenen Betrieben arbeiten, sind reiche Kapitalisten!" Sein Vater war selbständiger Handwerker, fuhr einen Vorkriegs-Mercedes Typ 170 als Betriebs-Pkw. Der wäre also in der Lage, unsere Schiffsreise zu finanzieren. Ob mein Schulfreund seinem Vater von meinem Traum erzählte, weiß ich nicht!

Wer, woher, warum hier?

Sommer 1964: Letzter gemeinsamer Urlaub mit meinen Eltern, diesmal an der Ostsee auf der Halbinsel Zingst-Darß. Meine Eltern abends nicht unternehmungslustig. Eines Abends entschloss ich mich zur Wanderung durch den Wald an die Westküste, immer geradeaus auf unbefestigtem Fahrweg. Dort weite Sicht auf Meer und kein Mensch, also weiter erkunden. Erst in Richtung rechts, aber da war nach ca. 300 m Schluss (Stacheldrahtzaun bis ins Wasser, war wohl Stützpunkt der Grenztruppen). Also zurück in andere Richtung, unterdessen dunkel. Aber ich kam nur vielleicht 1 km weit. Dann wurde ich plötzlich von einer Taschenlampe angeleuchtet. Ich mit meiner Lampe zurückgeleuchtet, da kam sofort der Befehl "Licht aus!" Zwei dunkle Gestalten mir gegenüber, vorgestellt als Grenzstreife. Und nun Fragen: Meine Ausrüstung vorzeigen (Taschentuch, Taschenmesser, Taschenlampe)! Wer, woher, warum hier? Einer schrieb alles auf, nahm dann einen Telefonhörer aus seiner Tasche, ging damit zu einem nahen Mast mit Elektroleitung, telefonierte. Danach Aufforderung an mich, ich solle zurück in Unterkunft zu meinen Eltern gehen. Aber mich am nächsten Tag bis 12 Uhr auf dem Volkspolizeiposten im Ort melden. Natürlich gemacht! Dort wurde wohl nur kontrolliert, das ich noch im Ort bin. Also keinen weiteren Fluchtversuch versuchte! Erst 10 bis 20 Jahre später erfuhr ich von Bekannten, das die Ostseeküste nachts oder im Dunkeln Sperrgebiet ist. Wie soll das ein 14-Jähriger wissen?

Wanderungen an der Grenze

Mai 1978 oder 1979: Als Einzelperson bekam ich in der Vorsaison einen Ferienplatz im Ferienheim des FDGB [Freier Deutscher Gewekschaftsbund] in Wernigerode. Es gab eine organisierte Wanderung mit örtlichem Bergführer in den Harz. Brocken natürlich nicht möglich, da Sperrgebiet. Trotzdem kamen wir laut Führer nahe an die Grenze, sollte in dem Tal vor uns sein und die Hügelkette danach bereits BRD-Gebiet. Mein Heimatort und die der Verwandtschaft lagen weit entfernt von der Grenze, also Mauer bisher nie gesehen! Was tun? Einige Tage später vom Bahnhof aus eine Fahrt mit der Harz-Querbahn. Erstmals sah ich erstaunt die Stacheldrahtzäune, Hundelaufleinen und Posten z. T. nur in 20 m Entfernung. Vermutlich dabei selbst von Zivilisten im Zug beobachtet. In den zwei isolierten Ortschaften, Sorge und Elend, war das Aussteigen verboten. Am nächsten Bahnhof (vermutlich Bahnhof Benneckenstein) stieg ich aus, um etwas zu wandern. Vorbei an einer Siedlungsstraße, quer über Wiesen. Aber überall standen dann Schilder "Weitergehen verboten, Grenz- oder Sperrgebiet“, ich hielt immer schön 20 m Abstand. Schließlich kam ich an eine Straße, wo dann überall diese Schilder standen. Also zurück und nichts von Grenze gesehen, weiter mit der Bahn und wieder zurück. Aber schon kam mir aus der Siedlungsstraße nun ein Volkspolizist entgegen, stellte sich vor und wieder Fragen (Ausweis, woher, warum, weshalb), und Notizen. Keine Probleme und Weiterfahrt. Diesmal mußte ich nicht zum VPKA [Volkspolizei-Kreisamt]; vermutlich wurde beim FDGB-Heim telefonisch erfragt, ob ich den […] Urlaub fortgesetzt hatte!

Entlassung und Wiedereinstieg ins Berufsleben

September 1979: Als etwas Unbequemer erfolgte mein Rauswurf aus dem Chemiefaserwerk Premnitz (Kündigung und Quasi-Berufsverbot als Diplomchemiker mittels "teuflischer Abschlußbeurteilung"). Nach zeitweiser Arbeitslosigkeit und Nottätigkeiten (Kraftfahrer, Sargtischler) schrieb ich einen gut überlegten Brief an das zentrale Arbeitsamt beim Bezirk Potsdam, mit dem Hinweis, "wenn in DDR keine qualifizierte Arbeitstätigkeit für mich möglich ist; so solle man mir die Möglichkeit geben, mich im Ausland beruflich zu bewähren". Nur wenig später erhielt ich ein Telegramm mit Termin beim Direktor vom Arbeitsamt Rathenow, wo auch ein Funktionär aus Potsdam anwesend war und alle gerade möglichen freien Planstellen für Leitungskader durchgegangen wurden, um mir schließlich wieder qualifizierte Arbeit und später leidliche berufliche Karriere zu ermöglichen. Zu dieser Zeit lief noch der Arbeitsrechtsstreit mit dem Chemie-Großbetrieb durch mehrere Instanzen. Ich hatte gerade an eine Rechtsanwältin das Mandat vergeben. Als die aber vom Inhalt des Schreibens an den Bezirk Potsdam erfuhr, gab sie sofort das Mandat an mich zurück, mit den Worten, "sie möchte hier in der DDR weiterhin als RA [Rechtsanwältin] arbeiten dürfen"!

Unbeabsichtigte Grenznähe

Unbeabsichtigte Grenznähe 1983 bei Betriebsausflug vom Stabskollektiv des Direktors vom Backwarenkombinat: Wir waren von der Betriebsleitung unseres tschechischen Patenbetriebes zum verlängerten Wochenende in deren Ferienheim nach Spicák eingeladen. Mit mehreren Pkw ging es in Kolonne über Plauen bis Brambach und über die CSSR-Grenze. Am Ortseingang von Cheb riesiger Stau mit unbekanntem Grund. Wir hatten Termin verabredet mit tschechischen Kollegen auf einem Parkplatz am See im Süden von Cheb. Handys zum Anrufen zwecks verspäteter Ankunft gab es nicht. Ich kannte mich gut mit Landkarten aus und in meinem neuen Atlas waren westlich von Cheb einige kleine Straßen zur Umfahrung von Cheb verzeichnet. Mit den anderen abgesprochen und deren Pkw's hinter uns her. Irgendwann sahen wir auf den Feldern rechts Schilder in Tschechisch und darunter in Deutsch "Durchgang verboten", weiter auf den kleinen Straßen. Irgendwo auch vor uns diese Schilder, aber wir liefen ja nicht zu Fuß. "Weiterfahren verboten" stand nicht darauf! Bis wir in kleinen Ort kamen und plötzlich aus gemauerter Bus-Wartestelle ein Grenzposten mit MP herauskam, uns anhalten ließ. Debatte ohne Tschechischkenntnisse mit meinem Autoatlas. Dann dirigierte uns der Grenzposten in einen Nebenweg zum Warten, während er telefonierte. Da sahen wir in 100 m Entfernung das Ende des Weges mit Stacheldrahtreitern und dahinter Stacheldrahtzaun, wir waren nahe der Grenze zu Bayern. Kurz später kam ein Pkw mit Zivilisten an, vermutlich Geheimpolizei, von denen einer deutsch sprach. Wieder Erklärung über Zweck unserer Fahrt, Erfassung aller Personendaten und Kfz-Kennzeichen, wieder Telefonat, wohl mit Vorgesetzten. Dann Entscheidung, jeder Pkw hatte 100 Ostmark Buße zu zahlen, danach gemeinsame Abfahrt, geführt von deren Pkw bis zum Parkplatz am See, wo uns endlich die tschechischen Kollegen in Empfang nahmen. Als die Beamten damit unsere Angaben als wahr erkannten, verschwand der Pkw. Endlich konnte der Kurzurlaub beginnen.

Ich bedauerte die Berliner…

Ich hatte keine Verwandtschaft oder Freunde in Berlin, damit die Berliner Mauer mir unbekannt. Circa 1985 importierte die DDR eine Lieferung von 51cm-Farb-TV Sanyo, Verkauf nur in Großstädten wie Berlin und Leipzig. Auf Grund des Preises von 8.000 Ostmark für mich illusorisch. Vergnügte mich in meiner Wohnung immer noch mit einem SW-Koffer-TV von ca. 25 cm. 1987 bis 88 war mir dieses TV-Bild wirklich zu klein. Also in Kleinanzeigen gesucht nach einem gebrauchten japanischen Farb-TV. Ein solcher in Berlin gerade für 800 Mark angeboten (10 % vom Neupreis), also interessant. Vermutlich hatte der Besitzer über Genex einen Neuen bekommen. Weil in seinem Wohngebiet keine freien Parkplätze [waren], sollte ich zwecks Besichtigung mein Auto in anderem Stadtteil parken und zwei Stationen mit der S-Bahn fahren. Meine erste S-Bahnfahrt und die Strecke führte direkt in nur 10 m Entfernung an der Doppelmauer mit Todesstreifen vorbei. Ich bedauerte die Berliner, die das tagtäglich sehen mußten!

Zur Person

Detlef Ingolf Sennholz wird 1950 in Weißenfels (Sachsen-Anhalt) geboren. Ab 1957 besucht er die Grundschule in Weißenfels und anschließend ab 1965 die Erweiterte Oberschule Lützen, die er 1969 mit dem Abitur abschließt. Parallel zur Erweiterten Oberschule absolviert er eine Berufsausbildung zum Chemielaborant im Hydrierwerk Zeitz. Im Anschluss studiert Detlef Sennholz an der Technischen Hochschule für Chemie in Merseburg. Ab1973 arbeitet er im Chemiefaserwerk in Premnitz, wo er 1976 leitender Chemiker des Zentralen Betriebslabors wird. Als Sennholz 1979 mit einer schlechten Beurteilung entlassen wird, beginnt er einen Arbeitsrechtsstreit, der bis zum Obersten Gericht der DDR verhandelt wird. Da Sennholz als Folge nicht mehr in seinem Ausbildungsberuf tätig sein kann, arbeitet er zunächst als Kraftfahrer und Sargtischler, ab Mitte 1980 bis 1985 ist er im kaufmännischen und wirtschaftlichen Bereich des Konsum Backwarenkombinats Potsdam tätig. Für Familienbesuche erhält er 1988/89 zweimal eine Reiseerlaubnis in den Westen. Ab 1990 arbeitet er für verschiedene Versicherungen, bis er im Jahr 2000 nach Norditalien auswandert.

Empfohlene Zitierweise:
Sennholz, Detlef: Reisesehnsucht eines Ostdeutschen, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/Detlef-Sennholz-Reisesehnsucht-eines-Ostdeutschen.html.html
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