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Reinhard Voigt: Privatisierung eines ostdeutschen Betriebs

Dieser Beitrag wurde von Reinhard Voigt (*1954) im Juni 2021 verfasst.

Gleich vorweg: Ich will die DDR unter keinen Umständen zurück. Und ich stimme auch nicht ein in den nostalgischen Gesang „Es war nicht alles schlecht“. Das Wenige, was wirklich erhaltenswert geblieben wäre, lässt sich an zehn Fingern abzählen. Viel mehr als der grüne Rechtsabbiegepfeil und das Sandmännchen bleiben da nicht übrig. Aber wenn heute manche Alt-Bundesdeutsche klagen: „Wir haben so viel in die neuen Bundesländer investiert und eigentlich müsstet ihr uns ja so dankbar sein!“, möchte ich meine eigenen Erfahrungen dagegenhalten.

“Wende zum Besseren“

Von der Maueröffnung am 9. November 1989 erfuhr ich erst am nächsten Morgen von meinen Kollegen. Da ich in Dresden wohnte, konnte ich bekanntlich kein Westfernsehen empfangen; und in der „Aktuellen Kamera“ des DDR-Fernsehens wurden natürlich keine Aufnahmen vom aktuellen Geschehen an den Berliner Grenzübergängen gezeigt.

Ich arbeitete wieder als Rundfunkmechaniker in einer Reparaturwerkstatt für elektronische Konsumgüter, also Fernseher, Radios, Plattenspieler, Kassettendecks usw. Diese Werkstatt auf der Hamburger Straße besaß in Dresden einen hohen Bekanntheitsgrad, da sie im ganzen Bezirk die einzige Vertragswerkstatt für Geräte aus westlicher Produktion war. Das bedeutete: Hier gab es Fachleute und die begehrten Original-Ersatzteile aus Fernost für den von der Oma mitgebrachten West-Rekorder oder den Sharp-Fernseher aus dem Intershop.

Während der nächsten Wochen nach dem Mauerfall zeichnete sich bald ab, dass sich in den wirtschaftlichen Strukturen der DDR-Betriebe etwas ändern wird, ja ändern muss. Irgendwann sickerte dann auch bis zu uns Service-Technikern durch, dass unser „volkseigener“ Betrieb, der RFT Industrievertrieb Rundfunk und Fernsehen Dresden, das Kombinat Stern-Radio Berlin verlassen und eine GmbH werden soll. Natürlich wusste keiner von uns, was eine GmbH ist; hatten wir doch alle lediglich die politische Ökonomie des Sozialismus mehr oder weniger freudig verinnerlicht, wonach es keinen Privatbesitz an Produktionsmitteln geben durfte. Alles andere sei Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Und die gab es nur im westdeutschen und amerikanischen Imperialismus.

“Mitarbeiterbeteiligung“

Mich interessierte aber doch der Unterschied zwischen einem VEB und einer GmbH. Darum versuchte ich mich kundig zu machen. Fachliteratur fand ich aber noch keine in den Buchläden und den Informationen der neuen DGB-Gewerkschaften traute ich nicht. Die saßen nun in dem grauen, klobigen Gebäude der bisherigen Einheitsgewerkschaft FDGB, hatten nur das „F“ aus dem Namen gestrichen, und das Personal schien auch noch nicht ausgetauscht worden zu sein. Zufällig stieß ich eines Tages auf die Christliche Gewerkschaft Metall. Nach meiner Kontaktaufnahme und kurzer Rücksprache über mein Anliegen schickte man mich und einen ebenso interessierten Kollegen gleich mal zur Schulung nach Andernach an den schönen Rhein. Dort lernten wir neben den Grundbegriffen des Arbeitsrechts, wie wichtig es sei, nicht nur in der richtigen Gewerkschaft Mitglied zu werden, sondern auch einen Betriebsrat zu gründen.

Als willkommene Abwechslung organisierte man für uns eine Schifffahrt zwischen Andernach und Koblenz. Unterwegs hörten wir über Lautsprecher in den Nachrichten, dass Gorbatschow in der damals noch existierenden Sowjetunion entführt worden sei, was mich doch ziemlich beunruhigte. Was wäre, wenn die Russen das Rad der Geschichte nun zurückdrehen würden? Aber die Weltgeschichte verlief dann zum Glück anders.

Zurückgekehrt in der Dresdner Service-Werkstatt riefen wir die Kollegen zu einer Betriebsratswahl auf, wobei wir die Wahlvorschriften leider nicht ganz wörtlich nahmen, so unbedarft wie wir waren. Und in Ermangelung eines anderen Freiwilligen machte man mich nach der Wahl kurzerhand zwar nicht zum Betriebsrats-Vorsitzenden, aber zum freigestellten „Betriebsrats-Sprecher“. Auf diese Bezeichnung legte der frühere Genosse Betriebsdirektor und jetzige GmbH-Geschäftsführer großen Wert, da ihm wohl schon bekannt war, dass ein Betriebsrat ohne strikte Einhaltung der Wahlordnung angreifbar ist, also auf wackeligen Füßen steht.

“Falsch beraten und verkauft“

Bald darauf machte uns der Geschäftsführer klar, dass unsere neue GmbH, zu der mehrere Service-Werkstätten und Verkaufsfilialen im Bezirk Dresden, von Riesa über Meißen bis Görlitz gehörten, ohne Hilfe aus den alten Bundesländern noch nicht in der Marktwirtschaft bestehen könnte. Außerdem plante er den Neubau eines modernen Dienstleistungs-Centers in Dresden, wozu man neuerdings ja „Kapital in harter Währung“ brauchte. Darum sei er froh, einen Investor aus Mainz gefunden zu haben, der bereit sei, uns zu unterstützen. Der Betriebsrat sollte der geplanten engen Zusammenarbeit in Vertretung der Belegschaft zustimmen. Bei einer kleinen Betriebsversammlung stellten uns ein paar gutsituierte Herren aus Mainz ihr Unternehmen vor, das sich ein wenig mit dem Vertrieb elektronischer Geräte, vor allem aber mit der Versorgung von Privathaushalten mit Medieninhalten per Kabel profilierte. Sie rieten uns wortreich zur Zusammenarbeit, weil beide Seiten davon profitieren könnten. Wir als Betriebsrat hielten das geplante Service-Center dadurch für realisierbar und wollten so viele Arbeitsplätze wie möglich für unsere Kollegen erhalten. Darum stimmten wir vorbehaltlich dieser Forderung zu.

“Kündigungen und Geschäftsschließungen“

Es begann ein verhängnisvoller Kreislauf: Unser Partner aus Mainz bestimmte nun das Warensortiment, das in unseren Filialen verkauft werden sollte. Und das stimmte selten mit den Kundenwünschen überein. Gefiel trotzdem mal einem Kunden ein Fernsehgerät, ließ er es sich von unseren Verkäufern ausführlich erklären und vorführen, dankte mit dem Hinweis, sich nur noch mit seiner Frau beraten zu wollen und kaufte das gleiche Gerät dann im Supermarkt, wo es zehn D-Mark billiger war, aber ohne Beratung. Eine Verkaufsstelle nach der anderen wurde so unrentabel. Eine Service-Werkstatt nach der anderen schlossen unsere Partner aus Mainz mit der Begründung, die Wegwerfgesellschaft würde schon auch noch im Land der Bastler und Verwerter einziehen und Reparaturen wären bald viel zu teuer für die neuen Bundesbürger.

Es folgten die ersten Entlassungen von Fernsehtechnikern und Verkäufern, die nicht bereit waren, künftig Telefonkabel über Land zu verlegen. Wenn ich unseren Geschäftsführer nun zu seinem Projekt Service-Center ansprach, zuckte er nur resigniert die Achseln. Auch er schien ehrlich enttäuscht zu sein. Fast wöchentlich erreichten uns als Betriebsrat Kündigungen, die man ehemaligen Kollegen ausgesprochen hatte, zu denen wir zwar angehört werden mussten, aber gegen die wir nichts tun konnten. Ich musste oft persönlich als Erster den Betroffenen die traurige Nachricht überbringen, was mir manche schlaflose Nacht bereitete. Ich erinnere mich an einen Nachmittag, an dem der Betriebsrat gemeinsam mit der Geschäftsleitung stundenlang um jeden einzelnen von vierzig ehemaligen Kollegen rang, die unser Partner entlassen wollte. Als ich von dem Personalchef des Mainzer Unternehmens die Erstellung eines im Gesetz vorgeschriebenen Sozialplans verlangte, drohte er mir persönlich mit der Kündigung, wohl wissend, dass dies einem Betriebsratsmitglied gegenüber rechtlich unzulässig ist.

Zwei Jahre nach der „Unterstützung“ durch das westdeutsche Unternehmen waren die meisten der RFT-Werkstätten und RFT-Filialen in Sachsen geschlossen. Von den ehemals fünfhundert meist hochqualifizierten Mitarbeitern im früheren Bezirk Dresden blieben noch ganze fünfzig übrig, die hauptsächlich Satellitenschüsseln montierten und Telefonkabel verlegten. Aus heutiger Sicht drängt sich mir der Verdacht auf, dass es den „Helfern“ aus Mainz von Anfang an nur um die Aneignung unserer Immobilien ging und darum, sich beim aufblühenden Geschäft mit der Medien- und Kabelkommunikation im Osten lukrative Marktanteile zu sichern. Weil dies bekanntlich kein Einzelfall blieb, kann ich die heutige Verbitterung mancher Ostdeutscher recht gut verstehen.

Zur Person

Reinhard Voigt (geb. Ulbricht) wird 1954 in der DDR geboren und wächst in Meißen und Nossen (Sachsen) auf. Aufgrund seiner christlichen Einstellung wird ihm der Zugang zur Erweiterten Oberschule (Gymnasium) verwehrt und er erlernt zunächst einen Bauberuf. Auch ein Fachschulstudium darf er nicht aufnehmen. Durch sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg kann er seinen Traumberuf Rundfunkmechaniker (Radio-Fernseh-Techniker) erlernen und ausüben. Nach der Wiedervereinigung wird er von seinen Kollegen zum Betriebsratssprecher gewählt, doch seine Firma überlebt den Einstieg in die Marktwirtschaft nur kurzzeitig. Im Anschluss ist Reinhard Voigt als Heimleiter in der Altenpflege und Personalfachkaufmann tätig. Nach einem Jurastudium an der Eberhard-Karls-Universität Tübingen arbeitet er bis zu seinem Renteneintritt 2020 in der Personalabteilung einer großen Stuttgarter Kirchengemeinde.

Empfohlene Zitierweise:
Voigt, Reinhard: Privatisierung eines ostdeutschen Betriebs, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/Reinhard-Voigt-Privatisierung-eines-ostdeutschen-Betriebs.html.html
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