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Annemarie Diefenbach: Aus dem Leben der Fahrschler

Dieser Eintrag wurde von Annemarie Diefenbach (1956-2009) im August 2003 in Büdingen verfasst.

Wir "Fahrschüler"

Der Ausdruck ‚Fahrschüler' ist heute wahrscheinlich gar nicht mehr so bekannt. Zu meiner Zeit - ich bin Jahrgang 1956 - waren dies die Schülerinnen und Schüler, die von den Dörfern ringsum auf die weiterführenden Schulen (Realschule, Gymnasium) in der Stadt gingen. Wir waren in der Regel diejenigen unserer Familien, die zuerst überhaupt das Glück hatten, auf Realschule oder Gymnasium gehen zu können. Nicht, daß wir Dörfler unintelligent gewesen wären, aber die Volksschule reichte den Eltern für ihre Kinder häufig aus, da diese selbst nur die Dorfschule besucht hatten. Ein Umdenken setzte erst langsam ein. Noch immer waren Mitte der 60er Jahre die Pfarrers-, Lehrer- und Ärztekinder und das Bildungsbürgertum auf dem "Gimmi", die Realschule war da schon das ‚Gymnasium des kleinen Mannes'.

Als sich für uns im zu Ende gehenden 4. Schuljahr die Frage stellte, wohin ab der 5. Klasse, sortierte sich da auch nicht nur wegen der Leistungen der weitere Schulweg: ich hätte mit meinen guten Schulzeugnissen es auch aufs Gymnasium geschafft, jedoch mein Freund in Kindertagen nicht. "Wenn Rainer nicht aufs Gymnasium geht, gehe ich auch nicht, sondern auf die Realschule!" Ich hatte gesprochen - unwiderruflich! Also gingen wir vereint zur Realschule; mit uns noch 3 weitere aus unserem Einschulungsjahrgang. Wir kannten uns quasi seit unsrer Geburt, besonders wir drei, die wir in der derselben Straße wohnten, Rainer, Ronald und ich. Kindergarten gab es nicht, unser Kindergarten war die Straße. Da es damals recht wenig Autoverkehr gab, war das auch keine gefährliche Situation, wenn wir auf der Straße spielten - und wenn mal ein Auto kam, ging man eben kurz zur Seite, um gleich darauf wieder Hickelkasten, mit dem Ball oder sonstwas zu spielen.

Realschul-Zeit

Wir gingen also, 3 Mann und 2 Fräuleins stark, ab Ostern 1966 zur Realschule. Oder besser: wir fuhren. Nicht etwa mit dem Bus - den nahmen wir nur in der Winterzeit - , sondern mit dem Fahrrad, denn der Bus kostete Geld, die Wochenkarte wahnsinnige 2,40 DM, später gar 3,20 DM! Wir trafen uns jeden Morgen regelmäßig um 7.15 Uhr am Ortsausgang an der dicken Linde, um die 7 km in die Schule zu radeln. Keine große Anstrengung, wir waren alle das Radfahren gewohnt, da außer Rainers Vater, einem Weißbindermeister, keine Eltern ein Auto besaßen. Der holte uns manchmal samstags ab, wenn wir normalerweise mit dem Bus fuhren. Er hatte einen VW-Käfer, hellgrün, und er holte nicht nur uns ab, sondern auch noch einige andere aus unserem Dorf und ging mit seiner Frau noch einkaufen. Einmal saßen wir zu 11. (!) in bewusstem VW-Käfer, hinten 3-fach gestapelt. Viel früher als mit dem Bus waren wir da allerdings auch nicht zuhause.

Nicht nur wir fuhren mit dem Rad, sondern auch die aus den anderen Klassen und dem Gymnasium. Aus dem 3 km entfernten Dorf schlossen sich uns welche an und 3 km weiter im nächsten Dorf ebenso. Wer zu spät kam (.. den bestrafte nicht grade das Leben ..), der durfte allein hinterher fahren. In max. 25 Minuten waren wir an der Schule. Am Ortseingang von Büdingen, wo wir zur Schule gingen, war (ist heute noch) eine Kaserne mit einer amerikanischen Garnison. Die Soldaten trafen wir dann auch jeden Morgen bei ihrem täglichen Frühsport und Straßenjogging. Sie winkten und riefen uns zu und wir entgegneten deren Begrüßung. Das war so was wie ein alltägliches Ritual. Unangenehm waren zweifelsohne deren Manöverfahrten mit Panzern, bei denen wir mit unseren Rädern mächtig aufpassen mussten, sowohl bei der Ausfahrt aus der Kaserne und vor allem beim Abbiegen in einer schmalen Dorfstraße. Aber es ist nie jemand von uns dabei zu Schaden gekommen.

Dialekt

Wir aus unserem Dorf sprachen einen starken Dialekt, die aus den anderen Dörfern zwar auch, aber nicht so gewaltig - und Dialektsprechen war damals noch eher was Verpöntes, was uns jedoch kein bisschen davon abhielt, es doch zu tun. Im Unterricht sprachen wir hochdeutsch, aber sobald die Klingel zur Pause oder zum Schulende schellte, fielen wir zurück in breitesten Dialekt. Da konnte auch kein Lehrer was dran ändern. Ich kann mich an eine Situation erinnern, wohl aus der 5. Klasse, da schrieb ich in einem Aufsatz "Sacktuch" (Taschentuch), weil das bei uns der gängige Ausdruck war. Mein Deutschlehrer strich das natürlich als Fehler an, womit ich wiederum nichts anfangen konnte. Ich fragte, was er damit meinte. Antwort: "Ihr solltet mal richtig Deutsch lernen!" Ihr - das waren wir alle kollektiv vom Dorf. Ich fühlte mich beleidigt, korrigierte zwar den Satz zähneknirschend, meine 1 im Aufsatz war weg und zu einer 2+ geworden. Aber dieses ‚Ihr' habe ich dem Alten nicht so recht verziehen. "Luaß' den dach babbele," meinte meine Kumpel Ronald, "der is ja bluus neirisch, weil'r net platt kuann!" (Übersetzung: " Laß' den doch schwätzen, der ist doch bloß neidisch, weil er nicht platt -also Dialekt- kann!"). Das war wahrscheinlich wirklich des Pudels Kern: die Lehrer, des Dialekts nicht mächtig, konnten nicht ertragen, dass Kinder was beherrschten, wozu sie keinen Zugang hatten. Deswegen war das Dialektsprechen von manchen Lehrern als was für die dumme Landbevölkerung hingestellt worden; nach dem Motto: nur was ich kann, taugt was! Wir wehrten uns auf unsre Weise und sprachen munter weiter in der uns anerzogenen Mundart, die wir noch heute sprechen können und vor allem bei Klassentreffen fröhliche Urständ feiert, sinngemäß ‚Dialekte aller Regionen, vereinigt Euch!'. Das ging auch nie gegen die hochdeutsch sprechenden Mitschüler, die in der Minderheit waren, sondern gegen einen arroganten Deutschlehrer, der meinte, uns maßregeln zu können, was voll daneben gegangen war. Später hatten wir einen anderen Deutschlehrer, der gleichzeitig unser Klassenlehrer war. Er stammte selbst aus einem Dorf und da war das alles paletti.

Mit dem Fahrrad zur Schule, sechs Mal die Woche

Nach diesem Schwenk über Dialekt und Hochdeutsch möchte ich wieder zurückkommen zur Benutzung unseres Fahrrads bzw. des Busses. Wie schon gesagt, fuhren wir im Frühjahr und Sommer und solange es der Herbst erlaubte, mit dem Fahrrad, den Rest des Jahres in der kalten Jahreszeit mit dem Bus. 6x die Woche 7 km hin und ebenso viele wieder zurück, gelegentliche Regenschauer nicht ausgeschlossen. Im Bus konnte man noch schnell Korrekturen bei den Hausaufgaben vornehmen (Vorsicht bei den Bahngleisen, das verbessert nicht sehr das Schriftbild), auf dem Rad konnte man zumindest drüber sprechen, was man vor Unterrichtsbeginn ggfs. noch ändern musste. Manchmal war das Radfahren auch ziemlich anstrengend, z.B. wenn man nach einem Wandertag noch heimfahren musste oder nach Bundesjugendspielen. Nach einem normalen Unterrichtstag jedoch war es ‚normale Härte'. Vorteile hatte das Radfahren ausgesprochen viele, wenn Rainer uns den neuesten "Kimble" (die Serie ‚Auf der Flucht') erzählte. Er war der Einzige, der noch so lange Fernsehen durfte, wir anderen mußten Schlag 20.00 Uhr im Bett liegen. So konnte er 7 km lang den Krimi auswalzen; ob es richtig war oder nicht, was er erzählte, weiß er bis heute allein. Aber nachdem ich den Kimble-Spielfilm mit Harrison Ford im Fernsehen gesehen hatte, waren Rainers Erzählungen dreimal unterhaltsamer, wahr oder unwahr.

Busfahren war schon stressiger, da das Busunternehmen mit schöner Regelmäßigkeit auf dieser Fahrtroute zu spät war und wir eben auch zu spät zum Unterricht erschienen. Einmal brachten wir es auf den Verspätungsrekord von über einer Stunde am Morgen, so daß wir die erste Schulstunde ganz und die zweite zur Hälfte verpasst hatten. Einmal hatte der Fahrer uns ganz und gar vergessen. Nur mit "Busnapping" per Schirm durch eine ältere Frau (Anna Erlenmaier sei Dank!), die zur Arbeit musste, drehte der Bus überhaupt um und brachte uns zur Schule und andere an ihren Arbeitsplatz. So Situationen kamen besonders bei sehr schlechter Witterung mit Schnee und Eis gehäuft vor und änderte sich erst, als die Schule beim Busunternehmen um Einhaltung des Fahrplans nachsuchte, damit die Schüler bei Unterrichtsbeginn anwesend waren. Es waren ja nicht nur wir aus unserem Dorf, sondern mindestens alle auf der gleichen Strecke liegenden Orte. Bei den anderen Dörfern weiß ich das nicht mehr so genau, weil die teilweise auch von anderen Busunternehmen mitgenommen wurden. Da wir aus meinem Heimatdorf relativ viele waren, gab es sogar schon das geflügelte Wort: "Die Dilsemer kommen ja auch schon!" Das war keine Lobeshymne, aber etwas, was wir als Schüler nicht in der Hand hatten.

Vorteile der "Städter"

Nicht nur hier hatten logischerweise die "Städter" einen eindeutigen Vorteil. Es gab was weiteres, was uns noch benachteiligte. Nichts Dramatisches. Wir bekamen zuhause vorwiegend lauwarmes Essen zum Mittag, wenn wir gegen 13.45 Uhr eintrafen. Da hatten Eltern, jüngerer Bruder und Oma schon vor fast 2 Stunden gegessen und die restliche Mahlzeit wurde künstlich, so gut es ging, warmgehalten. Am Herdrand stand der Topf bzw. das Wasserbad mit Schüssel; so wurde leidlich das Übrige vom Mittagessen der Meinen erwärmt. Daß das nicht mehr besonders viel Vitamine und Mineralstoffe enthielt, kann man sich ja denken. Aber noch mal heißmachen kam ja gar nicht in Frage - Energiesparen war angesagt! Das liest sich heute fast wie ein schlechter Witz, war aber damals für die Fahrschüler tagtägliche Tatsache. Da hatten es die "Städter" ausgesprochen besser als die "Dörfler". Selbst wenn deren Essen auch heißgehalten wurde, dann wenigstens nicht so lange. Als wir ab der 8. Klasse Nachmittagsunterricht hatten, ging dann ohnehin kein Weg mehr am Aufwärmen vorbei. Dafür waren wir gegen 16.00 Uhr zuhause (Sommer), mussten aber im Winter warten, bis um 17.15 Uhr der nächste Bus ging. Das waren mehr als 1 ½ Stunden, die wir uns irgendwo rumdrückten, in einer Kneipe eine Cola tranken, dabei Hausaufgaben machten und aus einer Wurlitzer-Musikbox unsere Lieblingslieder der Beatles, Stones, BeeGees, Scott McKenzie und was es noch so gab, hörten.

Wenn einer oder eine von uns krank war, brachte man dem Kranken natürlich die Aufgaben nach Hause. Das war selbstverständlich. Ronald und Rainer standen bei mir dann auch meist zu zweit im Zimmer, umgekehrt war es genauso. Das war nicht nur während der Realschulzeit so, sondern auch bereits in den ersten 4 Volksschuljahren. Müßig zu erzählen, dass gerade wir eine ausgesprochen enge freundschaftliche Verbindung hatten, die bis heute anhält.

Konfirmandenunterricht

Noch ein Thema: Fahrschüler haben Konfirmandenunterricht - und zwar um 14.30 Uhr! Das war seit ewigen Zeiten so und der Pfarrer ging keinen Deut von dieser Einteilung ab, obwohl die Verhältnisses sich doch gravierend verändert hatten und viele Schüler grade so wieder nach Hause gekommen waren zu dieser Zeit. Eine Verlegung auf einen späteren Zeitpunkt gab es nicht. Also, wir kamen zwischen 13.45 Uhr und 14.00 Uhr nach Hause, zackig was - Lauwarmes, hmm! - gegessen und dann los zur Konfirmandenstunde. Die ganze Nummer 2 Jahre zweimal wöchentlich jeweils 1 ½ Stunden lang, wobei wir im 2. Jahr nur noch einmal in der Woche hingingen, weil wir zeitgleich Nachmittagsunterricht in der Schule hatten. Diese Reglung ist heute Gott sei Dank abgeschafft. Daß uns der Konfi-Unterricht nicht die größte Freude bereitete, kann man sich vorstellen. Zumal wir nach 16.00 Uhr nach Hause kamen und noch einen Berg Hausaufgaben zu erledigen hatten, daß wir manchmal saßen bis gegen 20.00 Uhr, besonders wenn Arbeiten geschrieben werden sollten und man entsprechend zu lernen hatte.

Mir platzte einmal während der Konfirmandenstunde der Kragen, und ich warf dem Pfarrer an den Kopf, dass er ja genau wüsste, daß wir Probleme hätten, überhaupt rechtzeitig da zu sein und er würde uns zusammen zu den -nicht wenigen- Schulaufgaben noch jede Menge Zeugs aus Katechismus, Bibel und Gesangbuch zum Auswendiglernen aufgeben. "Das hat mir noch keiner gesagt!" war seine perplexe Antwort. "Dann war's jetzt grad mal Zeit!" Meine Jahrgangsgleichen aus dem Dorf freuten sich: "Haste gut gemacht!" Es änderte sich zwar bis zur Konfirmation nichts mehr, aber danach war erst mal Funkstille mit Kirche. So kann man die jungen Leute vertreiben, aber nicht gewinnen. Diese Verhältnisse sind heute doch glücklicherweise anders, ich selbst bin auch seit vielen Jahren aktiv ehrenamtlich in der Kirche tätig. Hat also keinen bleibenden Schaden hinterlassen; aber jeder ist für was gut, und wenn es als abschreckendes Beispiel ist - hier eben die altbackene Konfirmandenstunde inkl. Pfarrer, wo wir alle nichts fürs Leben gelernt hatten.

Andere Zeiten, andere Verhältnisse

Daß wir neben den normalen Schulanforderungen und sonstigem wie Konfirmandenunterricht auch noch zuhause mitarbeiten mussten, versteht sich von selbst. Und dies alles sind nicht Verhältnisse aus früheren Zeiten, sondern (bei mir geschehen) zwischen 1966-71. Wir hatten ja noch das Kurzschuljahr und mussten deswegen zusätzlich etwas hurtiger lernen als üblich (Umstellung der Einschulung von Ostern auf den Sommer, dadurch zwei gekürzte Schuljahre, hier meine 5. und 6. Klasse).

Viele Jugendliche nehmen es heute als selbstverständlich hin, dass sie alles haben oder bekommen können. Es sind erst gut 30 Jahre her, da waren die Verhältnisse noch wesentlich anders und heute Normales teilweise für uns unerreichbar. Es ist gut, dass es der Jugend heute besser geht als uns dereinst - aber das sollte man nicht als ein ‚Rundum-Sorglos-Paket' verstehen, sondern auch dankbar sein, dass es jetzt anders und besser ist.

Die ‚Heile Welt' gab es damals nicht und gibt es auch heute nicht. Es war anders, manches interessanter, vieles schwieriger und mühevoller. Vielleicht sind wir deswegen einfach nur etwas früher selbständiger geworden, gezwungenermaßen sozusagen.

Irgendwie ist doch aus uns allen was geworden.

Empfohlene Zitierweise:
Diefenbach, Annemarie: Aus dem Leben der Fahrschüler, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/annemarie-diefenbach-aus-dem-leben-der-fahrschueler.html
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