Dieser Beitrag wurde von Dietrich Schwanke (*1928) aus Auggen im Jahr 2013 eingereicht.
Wir wohnten damals in der Bouchéstraße in Berlin-Neukölln, auf dem kurzen Straßenabschnitt zwischen Harzer Straße und Kiehlufer, der auf beiden Straßenseiten zum amerikanischen Sektor West-Berlins gehörte. Nur 50 m von unserer Haustür entfernt, verlief quer über die Straße die Grenze zum sowjetischen Sektor (demokratischen Sektors Berlin oder auch Hauptstadt der DDR im dortigen Sprachgebrauch genannt). In der Harzer Straße verlief zwischen Bouchéstraße und Lohmühlenbrücke diese Grenze genau entlang den Hauswänden, der dort stehenden und zu Ost-Berlin gehörenden Häuser. In der Bouchéstraße zwischen Harzer Straße und Heidelberger Straße gehörte der Bürgersteig vor den zum Westen gehörenden Häusern zum Osten. Lediglich die Vorgärten, die später aus Sicherheitsgründen als Bürgersteig umgebaut wurden, waren ebenfalls noch Westgebiet. Auf diesem Abschnitt blieben auch nach dem Ausbau der Mauer die eigentlichen Gehwege außerhalb des Ostterritoriums. In den ersten Tagen der Abriegelung des Ostens war dies hauptsächlich durch Stacheldraht geschehen, doch bald wurde die eigentliche Mauer errichtet. Konnten anfangs noch die Bewohner der Hochparterrewohnungen in der Harzer Straße leicht aus ihren Fenstern vom Osten in den Westen gelangen, so war das bald vorbei; denn sie mussten, soweit sie noch da waren, die Wohnungen verlassen, damit die Fenster zur Westseite hin ebenso wie schon zuvor die Haustüren zugemauert werden konnten. Nur die darüber liegenden Wohnungen waren noch bewohnt. Doch schon bald kam es immer wieder zu "Abseilaktionen" von Bewohnern nicht nur hier, sondern auch an anderen Grenzstellen, wo die Verhältnisse ähnlich waren.
Eines Tages, als ich etwa gegen 7 Uhr vom Nachtdienst kam, konnte ich beobachten, wie ein Feuerwehrwagen ohne Blaulicht und Martinshorn die Harzer Straße in Richtung Lohmühlenbrücke entlangfuhr und vor einem der östlichen Mietshäuser anhielt. Die Feuerwehrleute waren offenbar verständigt worden, dass Menschen aus dem Osten nach Westen aus dem Fenster springen wollten. Das Sprungtuch wurde aufgespannt und die Mauerspringer sprangen nacheinander in die Freiheit. Später dann wurde sogar von West-Berlin aus von einem Ruinengrundstück am Zusammentreffen von Harzer Straße, Kiehlufer und Lohmühlenstraße, heimlich ein Tunnel unter der Straße hindurch zu einem im Osten liegenden Hauskeller gegraben, durch den dann Ost-Berliner in den Westen flüchteten. An der Westseite der Mauer gab es die Präsenz des Zolls in kleinen Wachhäuschen auf der Mittelpromenade der Bouchéstraße Ecke Harzer Straße und an der Lohmühlenbrücke, nur um diese als Beispiele zu nennen. West-Berliner Polizei und der Zoll machten regelmäßig Kontrollgänge entlang der Grenze und gelegentlich fuhr auch einmal die amerikanische Militärpolizei oder andere Soldaten mit einem Jeep vorbei. Bezeichnend war, dass in den ersten Tagen des Mauerbaus die Amerikaner mit einem Panzer hinter dem Kanal in der Wildenbruchstraße Aufstellung genommen hatten und es kursierten Gerüchte, dass sie wohl damit rechneten, dass die sowjetischen Soldaten im Verein mit der "Volksarmee" eine Grenzbegradigung bis an den Kanal heran beabsichtigten. Als dann die Mauer schon einige Zeit stand, versuchte der Fahrer eines schweren LKWs mit Höchstgeschwindigkeit die östliche Bouchéstraße entlangfahrend, durch die Mauer an der Harzer Straße durchzubrechen, was jedoch misslang. Es gelang ihm jedoch, vom Fahrerhaus aus auf die Mauer zu kommen und nach dem Westen herabzuspringen. Ob noch weiteren Personen die Flucht dabei gelang, ist mir nicht bekannt. Jedenfalls konnte ich selbst den steckengebliebenen LKW noch sehen, bevor er dann vom Osten aus abgeschleppt wurde.
Empfohlene Zitierweise:
Schwanke, Dietrich:
Errichtung der Berliner Mauer am 13. August 1961, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/dietrich-schwanke-errichtung-der-berliner-mauer.html
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