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Gilda Strohmeyer: Erinnerungen eines Kriegskinds an die Nachkriegszeit

Dieser Beitrag wurde von Dr. Gilda Strohmeyer (*1940) im Oktober 2022 in Ainring verfasst.

Am 1. Juni 1940 wurde ich als einziges Kind meiner Eltern in Berlin, Lessingstraße 21, geboren und eine Woche darauf, in der Nacht vom 7. zum 8. Juni 1940, erfolgte der erste Bomben- Angriff auf die Stadt Berlin. Ich selbst kann mich natürlich daran nicht mehr erinnern, aber meine Mutter erzählte, dass sie, die Eltern, ab 1942, als fast jede Nacht Bomben-Angriffe erfolgten, in Kleidern auf den Betten liegend, geschlafen hätten und das Kind, in seinem Gitterbettchen, als fertig geschnürtes Bündel aus dem Bettchen gerissen haben und in den so genannten Luftschutzkeller gestürzt wären. […]

Bombenangriff auf das Haus in Berlin 1942

Im November 1942 wurde das Haus, in dem meine Eltern wohnten, als ich geboren wurde, durch Phosphor-Brandbomben dem Erdboden gleich gemacht. Wir überlebten die Bomben- Angriffe auf das Zentrum der Stadt nur darum, weil eine Freundin meiner Mutter, deren Mann im Krieg war, uns eingeladen hatte, bei ihr in Zehlendorf einen Unterschlupf zu finden. Hier setzen meine ersten Erinnerungen an den Krieg ein. Die ältesten sind der so genannte Luftschutzkeller in Berlin-Zehlendorf und der Bombenkrater vor dem Haus, der die ganze Breite der Straße einnahm. Auch der Bombenangriff, bei dem dieser Krater entstand, ist mir noch erinnerlich: Die Tür des Luftschutzkellers flog durch den Luftdruck auf. Und ich soll geschrien haben: „Ich will leben, ich will leben“. Das aber hat meine Mutter erzählt, an meinen Aufschrei kann ich mich nicht erinnern. Das sind meine einzigen Erinnerungen an Berlin.

Evakuierung nach Bad Salzschlirf

Jetzt beginnen meine Nachkriegszeit-Erinnerungen. Im Januar 1944 wurde mein Vater mit den schwer Kriegsversehrten, die er am Berliner Abendgymnasium unterrichtete, um ihnen auf diesem zweiten Bildungsweg ein eventuelles Studium zu ermöglichen, nach Bad Salzschlirf Landkreis Fulda, evakuiert und im Zentral-Hotel daselbst untergebracht. Meine Mutter und ich durften erst im März 44 „nachrücken“, und durften auch nicht sogleich in das Hotel einziehen. Wir wohnten zunächst in einem ca. 6 Quadratmeter großen Kämmerlein bei einem Malermeister. Es standen nur ein Bett und ein kleiner Tisch in diesem Raum, auf den meine Mutter ihr kleines Handköfferchen legen konnte.

Irgendwann durften wir dann zu meinem Vater ins Zentral-Hotel ziehen, aber nicht für lange. Ständig nahm ja die Zahl der schwer kriegsversehrten Männer zu, denen nach ihrem Lazarett- Aufenthalt die Möglichkeit eingeräumt werden sollte, am Gymnasium das Abitur nachzuholen. Denn ein einarmiger Diplom-Chemiker kann seinen Beruf ausüben oder auch ein einarmiger Rechtsanwalt, nicht aber ein einarmiger Schreinermeister. So zogen wir also wieder einmal um, dieses Mal in das Hotel Kaiserhof in Bad Salzschlirf, heute Tagungs-Hotel der Standesbeamten Deutschlands. Der Umzug war schnell gemacht, denn die Eltern hatten ja fast nichts gerettet als die Kleider am Leibe. Es war ein Umzug von einem Hotel-Zimmer in ein anderes.

Häufige Umzüge wegen der Wohnungsnot

Nur mein Gitterbettchen hatten sie glücklicherweise von Berlin nach Salzschlirf als Express-Gut geschickt – es kam auch an (auch keine Selbstverständlichkeit) – denn in Hotels stehen ja in der Regel keine Kinderbetten zur Verfügung. In diesem Kinderbett der Marke „Paidi“ lag ich bis zu meinem sechsten Lebensjahr, musste die Beine freilich immer mehr anziehen.

Dann hatte die Wirtin der Frühstücks-Pension, in der wir ab Mai 1945 hausten, ein Einsehen und wies uns zwei winzige Mansarden Stübchen zu, wo für die Eltern zwei Ehebetten standen und für mich ein Jugendbett, also etwas kleiner als 1 x 2 Meter. Im Mai 1945 mussten wir wieder umziehen, denn nun kamen ja die Amerikaner und beanspruchten denn Kaiserhof für sich.

Wir zogen also in die Pension Rabenau in der Lindenstraße, wo wir zunächst ein einziges Zimmer, ab 1946 zwei winzige Mansarden- Stübchen bewohnten.

Neue Stelle des Vaters als Studienrat

Das Abend-Gymnasium Berlin gab es nicht mehr mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Aber mein Vater war – Gott sei Dank – bereits im Mai 1945 wieder als Studienrat am Realgymnasium Fulda angestellt worden, da er nie ein Mitglied der NSDAP war, sondern nur im 1933 „gleichgeschalteten“ NS- Philologen-Verband und so von den Amerikanern als „unbelasteter Mitläufer“ eingestuft wurde.

Mein Vater war also nie arbeitslos und erhielt ab Mai 1945 wieder ein Gehalt als Studienrat und Angestellter der Stadt Fulda. Das Geld aber hatte überhaupt keinen Wert, es war ja noch die Reichsmark. Das Deutsche Reich aber gab es nicht mehr und der Staat war durch den Krieg, den Adolf Hitler verursacht hatte, total bankrott. Bis zur Währungsreform am 18. Juni 1948 konnte man mit diesem Geld überhaupt nichts kaufen.

Hunger und Lebensmittelrationierung

Die Lebensmittel waren rationiert durch Lebensmittelkarten mit Marken. Einem Akademiker wurden natürlich weniger Kalorien zugestanden, als einem Arbeiter, das ist sogar gerechtfertigt, aber auch ein Akademiker muss etwas essen! Mein Vater wog bei einer Körperlänge von 1,80 Meter im Jahr 1948 nur noch 50 kg. Meine Eltern sind beinahe verhungert. Die Passbilder von ihnen aus diesen Jahren sind erschreckend. Der „Schwarzmarkt blühte“, aber als der Pelzmantel, mit dem meine Mutter Berlin verlassen hatte, in Brot und Butter umgetauscht war, gab es nichts mehr zum Umtauschen. Wir lebten vorwiegend von Pilzen und Beeren aus dem Wald, wo wir uns am Wochenende aufhielten.

Mein Vater aß ja in Fulda zu Mittag, in irgendeiner von der Stadt eingerichteten Küche. „Heute gab es wieder Brennnessel Suppe“ berichtete er am Abend, wenn er mit der Bahn aus Fulda nach Hause kam. Früh um 6 Uhr standen die Eltern auf, der Zug ging gegen 7 Uhr und um 8 Uhr musste der Vater in der Schule sein. Einmal fuhr auch kein Zug, da ist er die 17 km zu Fuß nach Fulda gegangen.

Meine Mutter und ich gingen jeden Tag in einen Gasthof, den Frankfurter Hof, von 1945 bis Juni 1948, als wir endlich eine Wohnung bekamen. Das Essen dort war entsetzlich, ich erinnere mich nur an Steckrüben-Suppe, ohne Fett und ohne Fleisch, die gallebitter schmeckte. Ich wünschte mir einen Reißverschluss im Bauch um das Zeug nicht essen zu müssen. Als Krönung dieser Misere musste ich mir dann noch von einer Mitschülerin anhören: „Ihr geht ja ins Gasthaus, weil Deine Mutter zu faul ist, um zu kochen.“ Dabei wussten ja alle, dass wir in einer Fremden-Pension wohnten.

Kriegsverwundete auf den Straßen

Mein Vater ging jeden Samstag zum Bürgermeister von Salzschlirf und bat um eine Wohnung. Aber der Bürgermeister, ein anständiger Mann, musste ehrlicherweise sagen: „Herr Strohmeyer, ich habe keine Wohnung“. Es standen ihm auch wirklich keine Wohnungen zur Verfügung, denn alle Hotels und Sanatorien waren mit schwer kriegsversehrten ehemaligen Soldaten belegt, in den Hotels Badehof und im Kaiserhof „hausten“ die Amerikaner.

Salzschlirf war Lazarett-Stadt. (Mit 3 000 Einwohnern eigentlich nur ein Dorf). Unvergesslich für mich sind die Schwerverwundeten, die z. B. beidseits beinamputiert auf einem Holzbrett sitzend, mit Rollen und zwei Stöckchen in der Hand, durch die Gegend rollten. Mich packte das blanke Entsetzen bei diesem Anblick: Das war der Krieg! Ich konnte mit niemandem darüber reden, bis zum heutigen Tage.

Endlich eine Wohnung

Am 19. Juni 1948, ein Tag nach der Währungsreform bekamen wir endlich eine Wohnung in der Schlitzer Straße, mit Küche und Toilette. Denn in der Frühstückspension gab es nur ein Klo auf halbem Treppenabsatz mit einem einzigen Wasserhahn für neun Personen, die alle, wie wir, in Mansarden-Stübchen unterm Dach hausten. (Drei verschiedene Familien und eine Greisin).

Die Wohnfläche dieser Behausung in der Schlitzer Straße betrug schätzungsweise 54 Quadratmeter, zweimal 27 Quadratmeter, voneinander getrennt durch einen 9 Meter langen Flur, der höchsten 2,5 Meter breit war und stockfinster obendrein. In diesem Flur stieg ich einmal in der Woche in ein Zink-Badewännchen, das immer keiner wurde, weil ich ja ständig wuchs. Meine Eltern haben von 1944 bis 1951 nicht ein einziges Mal baden können. Erst 1951, als wir nach Lauterbach in Hessen zogen, hatte die Wohnung, die an sich auch eine Katastrophe war, ein Bad. Davon später.

Auf diesen 54 Quadratmetern Wohnfläche hausten nun vier Erwachsene und ein heranwachsendes Kind im Alter von 8 bis 11 Jahren, denn mein guter Vater hatte 1948 auch noch seine völlig mittellose Schwiegermutter (geb. 1862) und die älteste Schwester meiner Mutter, (geb. 1886) mit in unseren Haushalt aufgenommen. Die beiden alten und kranken mittellosen Frauen wären in Berlin umgekommen. Sie wohnten von 1945 bis 48 bei einem Bauern in einem möblierten Zimmer und als wir dann endlich eine Wohnung bekamen, nahm sie der Vater in unseren Haushalt auf.

Ich schlief von 1944 bis 1951 immer im Schlafzimmer meiner Eltern und dachte als Kind schon: „Wenn ich einmal heirate, will ich aber nicht mit meinem Mann in einem Zimmer schlafen, ich will ein Schlafzimmer für mich!“. Das „Problem“ hat sich dadurch gelöst, dass ich erst gar nicht geheiratet habe.

Umzug nach Lauterbach

1950 wurde meinem Vater die Direktoren-Stelle des Realgymnasiums in Lauterbach/Hessen angeboten, die er nach langem Überlegen annahm. Ein Jahr lang musste er nun von Bad Salzschlirf mit der Bahn nach Lauterbach fahren. Fünf Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg gab es immer noch keine Wohnungen in Deutschland, nicht einmal für den Leiter eines Gymnasiums einer hessischen Kleinstadt und seine Familie, die jetzt nur noch aus drei Erwachsenen und mir bestand, denn die Großmutter war am 19. April 1949 gestorben.

Die Wohnung, die man uns zuwies, war ein umgebauter Lagerboden eines Rupfensack-Fabrikanten. Die Räume gingen alle in einander über: zwei größere Räume, in dem einen schliefen meine Eltern, das andere diente als Wohnzimmer.

Ich schlief auf der Diele. Die Tante schlief in einer Kammer vor der Küche, die etwa 9 Quadratmeter groß war. Das Bad war am Ende all dieser Räumlichkeiten. Wenn die Tante in der Nacht auf die Toilette musste, ging sie zuerst durch das Wohnzimmer, dann durch meine Schlafdiele, dann durch das Zimmer, wo meine Eltern schliefen und dann erst kam sie ins Bad und die Toilette. So eine Unterkunft bot man dem Direktor des einzigen Gymnasiums dieses elenden Ortes an. Dort hausten wir bis 1953, dann erst zog die Familie Strohmeyer in eine Wohnung, die als menschenwürdig zu bezeichnen war.

Das Gefühl, unerwünscht zu sein

Aber das Schlimmste in all diesen Jahren von 1942 bis 1953 waren nicht einmal die unwürdigen Wohnverhältnisse und das materielle Elend (erst 1951 konnten die Eltern das erste Möbelstück nach dem Krieg – einen Wäscheschrank – erwerben). Das Schlimmste aus meiner Sicht war, dass man immer und überall unerwünscht war. Das Gefühl, unerwünscht zu sein, begleitet mich nun mein ganzes Leben lang schon. […] Erst im Jahr 2008 hatte ich ein Erlebnis, dass ich zum ersten Mal in meinem Leben (nun 67-jährig!), erwünscht war. Davon später.

Als mein Vater in Fulda seinen Dienst begann, sagte ein anderer Studienrat – man sollte doch denken, ein gebildeter Mensch: „Warum sind Sie denn nicht in Berlin geblieben?“ […] Das Hansaviertel, [in dem ich geboren wurde,] war zu 98 % zerstört und da sagt dieser Mann: „Warum sind Sie denn nicht in Berlin geblieben?“

In Salzschlirf fragten uns die Bauern: „Was schaffe se denn, die främe Mulaff?“ Das soll heißen: „Was arbeiten sie denn, die fremden Maulaffen“. Eine Bäuerin sagte zu meiner Mutter, als diese für mich um einen Apfel zum Nikolaustag bat: „Sagen Sie Ihrer Kleinen doch, der Nikolaus ist im Krieg gefallen“. Die Bäuerin besaß eine große Streuobstwiese. Als mein Vater 1950 Direktor des Realgymnasiums Lauterbach wurde, sagten die Studienräte: „Wieso denn ein Berliner, wir haben doch selbst genug gute Leute!“

Unerwünscht im Beruf und Ehrenamt

In der Berufsausbildung erging es mir nicht viel anders. Ein Chefarzt im Dezember 1969: „Ich stelle keine Frauen ein, die sind dauernd schwanger.“ Selbst als ich 1975 meinen Dienst als Oberärztin an der Rheuma-Klinik Bad Aibling begann – dieser Ort lebt ausschließlich vom Reha- Betrieb – wurde ich nicht mit offenen Armen aufgenommen, im Gegenteil. Der Pfarrer ignorierte mich einfach jahrelang, obwohl ich jeden Samstagabend und jeden Sonntagmorgen die Heilige Messe besuchte. Auch die CSU in Bad Aibling ignorierte mich, deren Mitglied ich war. Nur einmal im Leben wurde ich mit offenen Armen aufgenommen und das im Hohen Dom zu Salzburg im März 2008, als ich in dieser Metropolitan-Kathedrale zur Lektorin berufen wurde. Diesen Dienst musste ich leider im September 2015 aufgeben. Aber ich bin dankbar, dass ich sieben Jahre lang jeden Sonntag und an jedem Hochfest das Wort Gottes vom Ambo (Lesepult) aus verkünden durfte. Es ist nicht leicht zu verzeihen, aber das ist vielleicht die wichtigste Aufgabe, die ein Mensch hat, bevor er abberufen wird. […]

Zur Person

Gilda Strohmeyer wird 1940 als einziges Kind des Oberstudienrats Gerhard Strohmeyer und seiner Ehefrau Edith, geb. Scherf, im Berliner Hansaviertel geboren. Nach der fast vollständigen Zerstörung des Hansaviertels bei Luftangriffen wird die Familie im März 1944 nach Bald Salzschlirf (Hessen) evakuiert. Strohmeyer besucht dort die Volkschule und das Realgymnasium in Lauterbach, wohin die Familie 1951 umzieht. Sie erkrankt als Jugendliche an spinaler Kinderlähmung. 1960 legt sie das Abitur ab und studiert anschließend bis 1967 Humanmedizin in Marburg und Würzburg. 1968 promoviert sie zum Dr. med. und arbeitet danach als Medizinalassistentin in Bad Driburg, Fulda und Kassel. Sie beginnt die Ausbildung zur Fachärztin für Innere Medizin am Kreiskrankenhaus Bad Hersfeld, die sie 1975 abschließt. Von 1975 bis zu ihrer Pensionierung 2002 arbeitet sie als Oberärztin und ständige Chefarzt-Vertreterin an der Rheuma-Klinik der LVA/Unterfranken in Bad Aibling. Anschließend absolviert sie eine Ausbildung zur Wortgottesdienst-Leiterin im Landkreis Rosenheim und studiert von 2003 bis 2005 katholische Theologie an der Domschule Würzburg. Seit 2006 wohnt sie in einer Seniorenresidenz in Ainring.

Empfohlene Zitierweise:
Strohmeyer, Gilda: Erinnerungen eines Kriegskinds an die Nachkriegszeit, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/gilda-strohmeyer-erinnerungen-eines-kriegskinds-an-die-nachkriegszeit.html
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