Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Heiner Fosseck: Sommer 1945 in Parchim

Dieser Eintrag wurde von Heiner Fosseck (*1940) im Juni 2008 in Hamburg verfasst.

5. Geburtstag im Juni 1945

Im Juni 1945 hatte ich meinen 5. Geburtstag. Meine Mutter schaffte es, fünf kleine Lichter zu beschaffen, und ich durfte sie auspusten.

Alle Schulen und Kindergärten waren in diesem Sommer geschlossen. Die Lehrer waren tot, festgenommen oder vor der Roten Armee geflohen. Auch die Kindergartentanten waren nicht mehr da. Kleine und größere Kinder waren sich selbst überlassen. Was konnten wir tun?

Einmal lagen Unmengen von Papier auf dem Hof des Landratsamtes. Der von den Russen eingesetzte neue Leiter der Behörde hatte diese "faschistischen" Akten aus den Fenstern werfen lassen. Mit Begeisterung spielten wir Kinder wochenlang in den sich aufweichenden Papierbergen. Manche Akten fanden ihr Ende auch auf den stillen Örtchen zu Hause. Einen Monat später suchten die Stadtwerke und die Behörden allerdings händeringend Katasterunterlagen und andere Papiere. Aber der neue Leiter war schon wieder verschwunden.

Weder Strom noch Gas

Es gab in diesem Sommer in Parchim weder Strom noch Gas. Abends und Nachts war Ausgangsperre. In der alten Dragonerkaserne lagerten riesige Berge von Altmaterial. Die Kleinsten von uns wurden in die von den Russen besetzte Kaserne vorgeschickt, um allerlei Brauchbares wie Alteisen oder Kupfer zu "organisieren". So nannten wir die Aneignung vermeintlich herrenloser Gegenstände. "Die Russen sind kinderlieb, die tun dir nichts, Heiner", fanden die Erwachsenen. Ich lief los, organisierte, aber auf dem Rückweg rannten Russen hinter mir her. Ich entkam nur, weil ich mich durch die Gitterstäbe der Umzäunung zwängen konnte. Zuhause bekam ich allerdings von meiner entsetzten Oma den "Pöker" voll und dann ging's ab ins Bett. Der hatte man brühwarm alles von meiner "Heldentat" erzählt.

Russische Soldaten übten Fahrradfahren

Auf dem Exerzierplatz übten Russen auf "weggefundenen" Fahrrädern das Fahrradfahren. Sie flogen alle naslang hin. Wir Kinder johlten. Die Uniformhosen hatten die Russen hochgeschoben. Merkwürdigerweise hatten sie darunter Damenstrümpfe mit Naht an. Einer hatte sogar 5 Armbanduhren am Arm.

Tag und Nacht Schreie

17-Jährige und ältere Jugendliche waren zusammen mit Erwachsenen in einer Villa an der Elde eingesperrt. Das Haus quoll über von Menschen. Wenn beim Appell jemand fehlte, schnappten sich die Bewacher einen zufällig auf der Straße Vorbeigehenden. Dann stimmte die Zahl wieder. Alle machten einen Riesenumweg um die Villa. Auch wir Kinder hatten strengste Order, uns hier fernzuhalten. Genauso wie vom GPU-Keller in der Nähe des Wockersees. Da hörte man Tag und Nacht auch Schreie.

Meine Mutter stellte Antrag auf Antrag zur Übersiedlung nach Hamburg. Keine Möglichkeit. Hamburg hatte Zuzugsperre. Es dauerte noch Jahre, um die 150 Kilometer nach Hamburg zu überwinden.

Empfohlene Zitierweise:
Fosseck, Heiner: Sommer 1945 in Parchim, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/heiner-fosseck-sommer-1945-in-parchim.html
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