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Ilse Schwanke: Wie eine West-Berliner Grenzgängerin den 17. Juni 1953 in ihrer Ost-Berliner Arbeitsstelle erlebte

Dieser Eintrag stammt von Ilse Schwanke (*1928). Er wurde 2013 von ihrem Ehemann Dietrich Schwanke (*1928) aus Auggen eingereicht.

Der Juni des Jahres 1953 war heiß, die Arbeitsbedingungen schlecht und die ganze Versorgungslage bescheiden. Die guten Waren wurden exportiert oder gingen immer noch als Reparationsleistungen nach Russland. Für das Volk blieb die Ware 2. Wahl übrig. Besonders bei den Bauarbeitern in der Stalinallee - dem Vorzeigeobjekt der damaligen DDR - brodelte und kochte die Unzufriedenheit. Die Superläden der Stalinallee gaukelten den Arbeitern täglich den Wohlstand vor, den es nicht gab. Am 17. Juni war es nun so weit, dass sie die Arbeit niederlegten und für bessere Arbeitsbedingungen und mehr Lohn demonstrierten. Auch in unserem Betrieb wurde gestreikt. Unsere Ingenieure bekamen auch langsam ein ungutes Gefühl wegen der ständig heruntergestoppten Normen. Von den Vorgängen in der Fertigungshalle bekamen wir eigentlich nichts mit. Unser Chef - ein sehr freundlicher kollegialer Dipl. Ing. - hatte uns zu Ruhe und Ausharren geraten. Da kam leichenblass ein großer blonder blauäugiger Mann in unser Büro. (Hitler hätte seine wahre Freude an dieser nordischen menschlichen Gestalt gehabt.) Dieser Mann zitterte am ganzen Körper und wollte von uns die Zustimmung haben, dass er immer menschlich und sozial gehandelt hätte. Wir stimmten ihm zu, es blieb uns ja nichts anderes übrig. Befriedigt ging er wieder. Ich hatte ihn bis dahin noch nie gesehen. Er war der Technische Direktor, wie ich nachher erfuhr.

Das Blatt wendete sich sehr schnell wieder, als der Aufstand mit russischen Panzern niedergemacht wurde. Die Aufrührer in unserem Betrieb wurden wie viele andere auch verhaftet und verurteilt. Bald kehrte der alte Ton wieder. Die Normen wurden zwar etwas gelockert, aber nicht abgeschafft. Der Fünfjahrplan musste ja erfüllt werden. Die Menschen selbst wurden zu Maschinen und durch eine raffinierte Methode zu immer mehr Leistungen angetrieben. Wer wollte schon gerne an der öffentlichen Leistungstafel namentlich weiter unten oder am Ende stehen. Das war die sogenannte Solidarität. Wenn einer Fehler gemacht hatte oder seine Leistungen zu wünschen übrig ließen, musste er vor seinen Kollegen eine sogenannte Selbstkritik üben. Wer spricht schon gerne öffentlich über seine Fehlleistungen. Übrigens hat uns der Technische Direktor nach der Niederschlagung des Aufstandes genauso wenig gekannt und beachtet wie vorher. Er musste ja keine Selbstkritik üben; er stand wieder ganz oben mit dem Slogan "Und morgen geht‘s mit neuem Fleiße wieder an dieselbe Scheiße!". Satirisch ausgedrückt.

Unseren Chef hat das alles jedenfalls sehr bedrückt. Er hat damals richtig geweint und war wohl mit seinen Nerven am Ende. Diese Arbeit war nicht das Richtige für ihn. In seiner Freizeit schwelgte er mehr in historischen und geschichtlichen Dingen. Sein ausgezeichnetes Zahlengedächtnis ließ ihn auch manchmal während der Arbeit (z.B. beim Diktat eines Briefes) historische Vergleiche anstellen. Und obwohl Techniker, war die Zusammenarbeit mit ihm interessant und abwechslungsreich. Einmal äußerte er auch, dass er sich auch eine Zusammenarbeit mit mir in seiner Hobbytätigkeit gut vorstellen könne.

Empfohlene Zitierweise:
Schwanke, Ilse: Wie eine West-Berliner Grenzgängerin den 17. Juni 1953 in ihrer Ost-Berliner Arbeitsstelle erlebte, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/ilse-schwanke-west-berliner-grenzgaengerin.html
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