Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Irene M.: Entnazifizierung - Deutscher Gruß

Dieser Beitrag wurde von Irene M. aus Hamburg im Jahr 2001 verfasst.

Juli 1945

Im Juli 1945 hatten wir alle unsere Fragebögen erhalten, vier Seiten lang. Jetzt wollen sie mit uns abrechnen, Sieger über Besiegte. Der Weg zur britischen Kommandantur ein schwerer Gang, besonders für die Männer. Wer konnte es sich leisten, kein Parteigenosse zu sein? Da gab es nur Ausnahmen, und die waren benachteiligt. Also auf in die Stadt zur Kommandantur, eine der schönsten Villen.

Voller Beklemmung dem Hinweisschild folgend, weil alles so fremdartig auf mich wirkt, betrete ich das wider Erwarten leere Amtszimmer und weil es mir so zur Gewohnheit geworden war, wie anders als mit dem deutschen Gruß. Doch kaum war mir das Heil Hitler von der Zunge gerutscht, als ich beim Anblick der englischen Union Jack zusammenschrak. Das kann doch nicht mehr zeitgemäß sein, und was nun? Hat er das gehört, der britische Offizier dort hinten in der Ecke über seinen Schreibtisch gebeugt? Er blickte erst auf, als ich vor ihm stand und noch bevor ich meine zurechtgelegten englischen Brocken anwenden konnte, befahl er mir, den Fragebogen auf den hohen Stapel zu legen und forderte mich schroff auf, zu gehen. Und ob ich ging. Ich eilte hinaus.

Was ist jetzt amtlich?

Auf dem weiten Heimweg über Landstraße und Wieschen hatte ich genügend Zeit, über meinen Patzer nachzudenken. Aber was ist denn jetzt der amtliche deutsche Gruß? Guten Tag, auf Wiedersehen? Das klingt doch albern Fremden gegenüber, so lasch und vertraulich, so begrüßt man höchstens Verwandte, Bekannte, Freunde. Hier im Umgang mit der Dorfbewohner heißt es Moin und Tschüss. Und während ich mich für die Abkürzung über die sumpfigen Wiesen entscheide, immer noch voller Selbstvorwürfe über meinen Patzer mit dem deutschen Gruß, überlege ich, wie es damals alles anfing.

Eines Tages in der Schule, es mag 1935 gewesen sein, war es unsere Rektorin persönlich, die uns den neuen Gruß einführte. Sie stellte sich mit ausgestrecktem Arm vor uns hin und rief Heil Hitler! Und wir stehen neben unserer Schulbank und sollen den rechten Arm erheben und den Gruß wiederholen. Das war ein Durcheinander von Hitler-Gekreische, Herumalbern und Gelächter. Aber nicht lange. Ermahnungen zur Disziplin, ausrichten und Haltung annehmen und das ganze solange, bis ein einheitlicher Hitler-Gruß ertönte, gefolgt von dem erlösen Befehl Setzen!

Neue Grußordnung

Die den Lehrkräften auferlegte neue Grußordnung konnte kein Ausdruck ihrer eigenen politischen Gesinnung sein. Da war zum Beispiel unsere Religionslehrerin, der man immer mehr Religionsstunden im Unterrichtsplan gestrichen hatte und die uns auch in Biologie und Geographie unterrichtete. Sie ließ es sich als Pastorentochter nicht nehmen, nach jedem Hitler-Gruß ein Kirchenlied mit uns anzustimmen und damit den Unterricht zu beginnen.

Heil Hitler! Wer nur den lieben Gott läßt walten ...

Empfohlene Zitierweise:
M., Irene: Entnazifizierung - Deutscher Gruß, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/irene-m-entnazifizierung-deutscher-gruss.html
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