Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Joachim Rumpf: Nach der Kapitulation

Dieser Eintrag wurde von Dr. Joachim Rumpf am 19.08.2013 in Görwihl im Hotzenwald verfasst.

Nach Hitlers Tod

[...] mit der nun wenige Tage nach Hitlers Tod folgenden Kapitulation waren die Träume dahin und mit ihnen das Großdeutsche Reich. Was blieb, waren wir Menschen. Täglich wanderte der Vater hinunter in die Kreisstadt, um (vergeblich) seine "Entnazifizierung" zu beantragen. Außerdem bemühte er sich energisch darum, dass wir wieder nach Dessau zurückkonnten. Das klappte nicht gleich. Erst als die sowjetischen Truppen die Amerikaner abgelöst und Thüringen und Teile Sachsens gegen West-Berlin eingetauscht hatten, konnten wir zurückfahren. Das wertvollste Gut, das wir aus Goßwitz mitnahmen, war ein Doppelzentner Mehl. Die Nachkriegszeit hatte begonnen und mit ihr die Periode des ständigen Hungers und, in den Wintermonaten, des Frierens. Wir kamen zwar heil in Dessau an. Dort aber war noch alles, wie wir es verlassen hatten: Die Fenster ohne Glas, auf dem Dach fehlten Ziegel und in den Gärten und Straßen klafften die Bombenkrater. Und die Nachbarn waren zunächst gar nicht gut auf uns zu sprechen, da wir nicht mit ihnen, mit denen wir fast zehn Jahre Wand an Wand gelebt, auch das Kriegsende geteilt hatten. Dennoch blieben in den nun folgenden Jahren die gewachsenen Verbindungen erhalten. Gerade jene, die als besonders belastet galten und ihr Haus verlassen und in Notquartiere umziehen mussten, standen uns noch lange besonders nahe. Die meisten aber, zu denen auch wir gehörten, schafften es und konnten bleiben. Es kamen noch viele andere Menschen hinzu. In jedes Haus wurde wenigstens eine weitere Familie einquartiert. Die Ausgebombten und mehr und mehr die aus dem Osten Vertriebenen mussten untergebracht werden. Und da hieß es: zusammenrücken. Bis Ende 1947 lebten wir und unsere Nachbarn in der Siedlung in den kleinen Reihenhäusern in drangvoller Enge. Lediglich jene, die in die Häuser der ausgewiesenen Familien eingewiesen worden waren und irgendwelche Schlüsselfunktionen in der neuen Verwaltung ausübten, blieben von Einquartierungen verschont. Bereits in den ersten Nachkriegsmonaten bildeten sich neue soziale Unterschiede heraus. Gewiss litten die meisten Menschen, genauso wie wir, Hunger und mussten zusehen, wie sie mit ihren kargen Rationen zu Recht kamen. Es gab aber doch einige wenige, die mehr oder gar noch alles hatten, was wir vermissten. So hatten wir in der Klasse, die Schulen in der sowjetisch besetzten Zone wurden bereits am 1. Oktober 1945 wieder geöffnet, einen Mitschüler, der über genügend Zigaretten verfügte.

Zigarettenwährung

Zigaretten waren eine Art Währung in dieser Zeit. Fast alle Menschen rauchten. Dass Zigaretten und Tabak gleichsam als lebensnotwendig anerkannt waren, darauf deutet die "Raucherkarte", die jedem Menschen, neben der Brotkarte, der Fleischkarte, der Nährmittelkarte und der Zuckerkarte zugeteilt wurde. Dieses System der "Lebensmittelkarten" war uns vertraut, da es bei Kriegsbeginn eingeführt worden war. Nur waren nach dem Krieg die Rationen geringer. Auch meine Eltern rauchten. Ihnen war eine Zigarette, vielleicht sogar eine "Gute" (nicht selbst gedrehte) wichtiger, als ein Stück Fleisch. Unsere Nachbarn waren Nichtraucher. Mit ihnen wurden Lebensmittelmarken gegen Zigarettenmarken getauscht, was unsere Not nicht gerade linderte. Wir Kinder folgten dem Beispiel unserer Eltern und rauchten kräftig mit. Ich habe in jenen Jahren erfahren, dass derartige Süchte eine ernste Gefährdung unserer Existenz und keineswegs eine Bereicherung waren. Was haben wir Raucherinnen und Raucher nicht alles an Entbehrungen auf uns genommen, zu welchen beschämenden Handlungen waren wir fähig, nur, um an eine Zigarette oder wenigstens an etwas Tabak zu kommen. Sogar Zigarettenpapier war eine Kostbarkeit. Aber auch für Brot wechselten Schallplatten, Fotoapparate oder wertvolle Bücher die Besitzer. Was der Krieg an Wertsachen nicht zerstört hatte, das verschwand auf dem schwarzen Markt. "Wenn die Zeiten wieder besser werden", so trösteten wir uns, "dann kaufen wir es uns wieder". Dass dies keine leere Phrase war, lässt sich an einem Beispiel nachweisen: Meine Kindheit war stark vom Buch geprägt. Lesen gehörte zu meinen Lieblingsbeschäftigungen. Besonders in einer siebenbändige "Illustrierte Weltgeschichte", die im Bücherschrank meiner Eltern stand, hatte ich immer wieder gern geblättert. Da ich der einzige in der Familie war, der sich in diesen Jahren für die Bücher interessierte, fiel es auch nicht sonderlich auf, als die Weltgeschichte eines Tages fort war. Jedenfalls fragte niemand danach. Ich hatte sie gegen ein ganzes Brot und ein paar Zigaretten getauscht. Zwanzig Jahre später ging ich auf die Suche nach dieser Ausgabe. Erst 1991 fand ich sie in einem Tübinger Antiquariat wieder.

Weitere Erinnerungen von Dr. Joachim Rumpf finden sich auf seiner Homepage www.salpeterer.net/Zeitgeschichte.

Empfohlene Zitierweise:
Rumpf, Joachim: Nach der Kapitulation, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/joachim-rumpf-nach-der-kapitulation.html
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