Zeitzeugen > Geteiltes Deutschland: Gründerjahre

Joachim Rumpf: Vom Wir zum Ich

Dieser Eintrag wurde von Dr. Joachim Rumpf am 2013 in Görwihl im Hotzenwald verfasst.

Von der nationalsozialistischen und sozialistischen (Volks-)Gemeinschaft zum Individualismus

Wenn ich mich heute danach frage, was ist es denn, was ich aus jenen Jahren als lebensbestimmenden Grundhaltungen mitnahm, dann möchte ich sie mit "illusionslos", "pazifistisch" und "pragmatisch" bezeichnen. Zunächst ist hier festzuhalten, dass ja der Krieg noch lange dauerte, da der heiße Krieg bald in den "kalten" überging, Und für wenige Jahre war ich insofern "Kriegsteilnehmer" da ich mich als politischer Pädagoge für den Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen Gesellschaft in der Gründungszeit der DDR engagierte. [...]

Acht Jahre später trugen unter anderem drei Faktoren zu meiner Distanzierung von der Situation in der DDR, wie ich sie erlebte, bei: Die Herausbildung neuer privilegierter Schichten ("Die neue Klasse" hieß ein Buch von Milovan Djilas, der dieses Phänomen beschrieb), die mich gewaltig verärgerten. Die nicht nachlassende Bewährungssituation in der sich in der DDR strebsame junge Menschen befanden, in der sie ständig vor irgendwelchen Leitungen ihr Tun und Lassen zu rechtfertigen hatten (die Prinzipien "Kritik und Selbstkritik"). Wobei die Leitungspersonen in den Jugend- und Parteiorganisationen den hohen moralischen Anspruch, den sie einforderten, nicht selbst lebten. Die erkennbar werdende Remilitarisierung in der DDR, die sich mit meiner Grundhaltung "Nie wieder Krieg" - und schon gar nicht mit deutscher Beteiligung - nicht vertrug.

“hinters Licht geführt“

Auf einen grob vereinfachten Nenner gebracht, fühlte ich mich von der "neuen Klasse" nach 1949 genauso hinters Licht geführt, wie von der alten Klasse vor 1945. Illusionslos blieb ich - generalisierend und bezogen auf die Absichten all jener, die Macht haben in Staat, Wirtschaft und Gesellschaft - bis heute. Ein elementares, im tiefsten Innern stets lebendiges Misstrauen gegenüber allen wohlklingenden oder frommen Sprüchen hatte sich herausgebildet, geboren aus der Enttäuschung über ein System, an das wir (meine Angehörigen und ich) bis 1945 geglaubt hatten und deren alternativen Ideologien sich als ebenso mehrdeutig wie amoralisch demaskierten. Die Desillusionierung vollzog sich nicht von einem Tag auf den anderen. Sie vollzog sich auch nicht bei allen Deutschen und wenn, dann nicht bei allen in der gleichen Weise. Ich zum Beispiel war noch jung. Der Prozess der Identitätsbildung, der mit der Pubertät beginnt, lag 1947 noch vor mir. Ich hatte eine gute Chance, mich neu zu orientieren. Doch blieb, und diese Haltung führe ich auf den Zusammenbruch der alten Ordnung zurück, innerhalb derer mein Bedürfnis nach Glaube und Hingabe gestillt wurde, eine kritisch-misstrauische Einstellung erhalten, die durch die sehr unterschiedlichen Erfahrungen in der "DDR" verstärkt wurde. Sie möchte ich - unter anderem - dafür verantwortlich machen, dass meine Bindungen an Weltanschauungsgemeinschaften, sei es eine christliche Kirche oder der DDR-Sozialismus Perioden blieben. "Trau keinem über dreißig" hieß es bei uns während der Studentenunruhen der Jahre um 1968. Diese Position - bezogen auf alle Heilsbringer und Besserwisser in Politik, Wirtschaft und Kultur - hatte im Grunde bei mir schon damals Tradition. Dass das Misstrauen den Obrigkeiten gegenüber in unserem Volk größer geblieben war, als der Glaube an alte oder neue Ideologien, das bewies das sang- und klanglose Verschwinden der alten DDR. Die Bereitschaft, Opfer zu bringen für eine abstrakte Idee, ob sie sich nun Volksgemeinschaft, sozialistische Gesellschaft nennt oder ob damit das Verständnis der Weltmacht USA von Freiheit und Demokratie gemeint ist, hatte offenbar nicht nur mir die Erfahrung des Zusammenbruchs 1945 und der Nachkriegsperiode gründlich ausgetrieben. [...]

Weitere Erinnerungen von Dr. Joachim Rumpf finden sich auf seiner Homepage www.salpeterer.net/Zeitgeschichte.

Empfohlene Zitierweise:
Rumpf, Joachim: Vom Wir zum Ich, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/joachim-rumpf-vom-wir-zum-ich.html
Zuletzt besucht am: 29.03.2024

lo