Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Joachim Rumpf: Wie unsere Familie nach Thüringen kam

Dieser Eintrag wurde von Dr. Joachim Rumpf am 19.08.2013 in Görwihl im Hotzenwald verfasst.

Dessau nach den Bombardements

Meine Eltern und wir Kinder hatten wenige Wochen vor Kriegsende zwei schwere Bombardements in unserer damaligen Heimatstadt [Dessau, Anm. d.R.] nur knapp überlebt. Die Stadt war in zwei nächtlichen Luftangriffen am 7. und am 14. März 1945 fast völlig zerstört worden. Die Schäden dort seien nicht geringer gewesen, als in Dresden oder Magdeburg hieß es damals. Auch unser Reihenhaus wurde in Mitleidenschaft gezogen, wenn auch mehr Bomben - bedingt durch die lockere Bauweise der Siedlung - in die Gärten und auf die Straßen als auf die Häuser gefallen waren. Die Stunden des Rauschens, Zischens und Knallens und der Luftdruck, der uns gleichsam die Kellertreppe hinunter stieß, blieben (bis heute) ebenso unvergessen, wie die panische Angst und das grauenvolle Brausen und Knistern der Feuersbrunst, die die ganze Stadt ausfüllte. Und die Menschen? Es war eher still in diesen Situationen: niemand schrie, niemand schien den Kopf verloren zu haben. Ich kann mich nicht erinnern, dass eine Panik ausbrach, als wir merkten, dass die Angriffswellen vorüber waren. Jeder sah zu, dass aufflackernde Feuer hier und da gelöscht wurden. Alle packten mit an und natürlich wurde auch dort gelöscht, wo niemand zu Hause war. Unser Vater war zufällig daheim. Er behielt die Ruhe und bot uns ebenso Schutz wie die Mutter. Sie durfte nicht auch, wie wir Kinder, vor Angst beben. Unser Zorn aber richtete sich nicht gegen die Regierung, so, wie es heute bei jeder Steuererhöhung und anderen "Reformen" üblich ist, sondern gegen die "Anglo-Amerikaner", die die Terrorangriffe durchführten.

Unterschlupf im Luftschutzkeller

Wir Kinder wollten von diesen Stunden an nicht mehr daheim schlafen. Bei Anbruch der Dämmerung zogen wir mit vielen anderen hinaus in die umliegenden Wälder. Wir fanden sogar Unterschlupf im Luftschutzkeller der Familie Zacke, dem Klassenlehrer meiner Grundschulzeit. Die bewohnten ein kleines Häuschen in einer Siedlung am Waldrand, die bisher nicht bombardiert worden war. Diese allabendliche Wanderung mit Sack und Pack im Handwagen endete schon nach einer Woche, als uns der Vater nach Thüringen holte. Auf einem vom Vater organisierten Lastwagen waren wir aus der zerstörten Stadt nach Thüringen gekommen. In den alten Eisenerzgruben tief unten im Roten Berg und an anderen Orten, waren Betriebsteile der Junkers-Werke verlagert worden. Unser Vater, damals schon über vierzig Jahre alt, war kein Soldat geworden, sondern in diesem Rüstungsbetrieb tätig und bereits seit etlichen Monaten bei Saalfeld stationiert.Zunächst hatten wir im "Grünen Baum" in Goßwitz auf dem "Roten Berg" ein Zimmer bekommen. Als die Amerikaner eingerückt waren und die Nachkriegszeit begonnen hatte, nahm uns ein älteres Ehepaar bei sich auf und trat uns eine Stube ab. Die beiden bewirtschafteten einen kleinen Hof, der sie, ein Schwein, drei Ziegen und einige Hühner und Kaninchen ernährte. Sein Leben lang hatte der Hausvater unten in der Maxhütte im Schichtbetrieb gearbeitet, während die Frau die Kinder großzog und das Vieh versorgte. Gemeinsam bestellten sie ihre kleinen Äcker, die gerade soviel Kartoffeln, Getreide und Grünfutter erbrachten, wie die Tiere und Menschen zum Überleben brauchten.Und hier gleich eine weitere Erinnerung, die lebhaft vor meinen Augen steht: In Thüringen ist das "Eier schippeln" ein alter Osterbrauch. Kinder nehmen die gefärbten Eier und lassen sie einen Hügel hinunterrollen. Dabei kommt es darauf an, dass die Schale nicht entzwei geht. Wir Kinder ließen die gekochten Eier rollen und die Hausfrauen trugen Kuchen auf großen runden Blechen zum Dorfbäcker, um sie dort backen zu lassen. Auch meine Mutter buk Kuchen und alle feierten ein Osterfest, als ob wir nicht gerade das Einrücken der Amerikaner erlebt und als ob an mehreren Fronten in Deutschland nicht noch gekämpft würde. Hier war es friedlich geworden. Die Voraussagen von Skeptikern aber, die damals bei uns bereits umgingen: "genießt den Krieg, der Frieden wird fürchterlich" sollte sich bestätigen.

Weitere Erinnerungen von Dr. Joachim Rumpf finden sich auf seiner Homepage www.salpeterer.net/Zeitgeschichte.

Empfohlene Zitierweise:
Rumpf, Joachim: Wie unsere Familie nach Thüringen kam, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/joachim-rumpf-wie-unsere-familie-nach-thueringen-kam.html
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