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Kurt Elfering: Ausbruchwelle aus russischer Kriegsgefangenschaft

Dieser Eintrag stammt von Kurt Elfering (*1922). Kurt Elfering berichtet in insgesamt sieben Abschnitten von seinem Transport ins Gefangenenlager, über die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Lager bis zu seiner Heimkehr Ende April 1948.

Freiheitsdrang breitet sich im Frühling aus

Seit 1945 saßen wir zu ca. 3000 im Kriegsgefangenenlager Borowitschi. Wie das so ist, bildet sich bei allen Lebewesen im Frühsommer ein gewisser Freiheitsdrang mit der Folge, dass die Flucht von Gefangenen aus dem Lager bzw. aus den Arbeitsbrigaden plötzlich losging. Eine Unruhe breitete sich aus, die auch bei den Russen zu großer Nervosität führte. Die Flüchtenden wollten sich nach Leningrad absetzen, um irgendwie mit einem Schiff nach Schweden zu gelangen. Keiner kam aber durch. Alle sind irgendwo erwischt worden.

Flucht im Latrinenwagen

Ein Vorfall, der sich in unserem Lager abspielte: Das Kommando"4711" (!) bestand aus zwei Landsern, einem Pferd und einem Kesselwagen. Ihre Aufgabe war es, die Latrinen zu leeren und abzufahren. Sie konnten ohne Kontrollen das Haupttor passieren. Was wollte man da auch schon kontrollieren? Eines Tages kamen sie nicht zurück. Man fand Pferd und Kesselwagen irgendwo im Gelände. An diesem Tage war der Kesselwagen nicht mit"4711" gefüllt, sondern zwei Gefangene hatten sich darin versteckt. So kamen sie mit zwei blinden Passagieren unbemerkt aus dem Lager. Wie es hieß, hat man sie auch wieder eingefangen. Es war auch bestimmt nicht einfach, bis Leningrad zu kommen -und dann noch zum Hafen, das war undenkbar.

Propaganda-Vortrag während der Fluchtwelle

Während dieser Fluchtwelle kam eines Tages ein Propagandist von der Antifa - ein ehemaliger Rotspanienkämpfer der Internationalen Brigade - auf die Idee, uns einen mahnenden Vortrag zu halten. Er stellte sich im Mittelbereich der Baracke auf und legte los. Zunächst erzählte er etwas vom Sozialismus, was wir sowieso alles schon wussten, dann kam er zur Sache: Wir hätten doch hier unsere Pflicht zu erfüllen, Russland wieder aufzubauen usw usw. Dann ging es richtig los: "Kameraden, Genossen, ihr habt doch schon von dieser Fluchtwelle gehört. Stellt euch vor, ihr brecht aus und kommt tatsächlich durch und zu Hause an! Ihr klingelt an der Wohnungstür, und eure Frau macht auf. Sie sieht euch an und fragt: 'Wo kommst du denn her?' Dann sagt ihr, dass ihr aus russischer Gefangenschaft abgehauenseid. Dann könnt ihr euren Frauen doch nicht mehr mit gutem Gewissen in die Augen sehen, denn sie werden euch fragen, ob ihr auch schon an dem russischen Volk eure Wiedergutmachung erfüllt habt?? Was wollt ihr dann antworten??" Hierbei steigerte er sich so, dass seine Stimme sich fast überschlug. Jetzt war es den Landsern zu viel geworden. Sie buhten und pfiffen den Redner nieder. So viel sozialistischen Unsinn hatten sie noch nie gehört. Wütend verließ er die Baracke, beschimpfte uns als Faschisten und als nicht zu bekehrende Nazis. Es wurde so lange gebuht und gepfiffen, bis er verschwunden war. Jetztfing aber bei uns das Problem an. Wenn er nun den Russen diesen Vorfall berichten würde, was wird dann mit uns geschehen? Fragen über Fragen. Wir sind ja soeben wieder zu Faschisten und Nazis erklärt worden. Gespannt warteten wir ab. Aber es geschah nichts.

Die Nacht verging auch ohne Vorkommnisse. Der nächste Tag blieb ebenfalls ruhig, und wir beruhigten uns auch wieder. Wahrscheinlich hat der verantwortliche russische Offizier diesem rotspanischen Redner erst mal klar gemacht, wo die Grenze der Dummheit liegt. Jedenfalls haben wir nie wieder etwas von diesem Manne gehört. Irgendwie tat uns der Mann auch leid: Seit1936 als Deutscher bei den Internationalen Roten Brigaden in Spanien, dann in Frankreich interniert, vor dem deutschen Frankreichfeldzug noch in der damals sicheren Sowjetunion eingetroffen, als Deutscher dann wahrscheinlich auch wieder interniert, und dann als verirrter Antifaschist bei uns im Lager ohne Ziel und Hoffnung - da kann man schon irrsinnig werden!

Empfohlene Zitierweise:
Elfering, Kurt: Ausbruchwelle aus russischer Kriegsgefangenschaft 1946 , in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/kurt-elfering-ausbruchwelle-aus-russischer-kriegsgefangenschaft.html
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