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Kurt Elfering: Die Klagemauer in Borowitschi

Dieser Eintrag stammt von Kurt Elfering (*1922). Kurt Elfering berichtet in mehreren Abschnitten von seinem Transport ins Gefangenenlager, über die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Lager bis zu seiner Heimkehr Ende April 1948.

Arbeit in der Schlosserei im Kriegsgefangenenlager

Es war im Sommer des Jahres 1946. Ich arbeitete in russischer Kriegsgefangenschaft in Borowitschi bei der Brigade "Mechaniski- Masterskaja" im Kombinat Krasni - Keramik (in der Schlosserei).Unsere Schlosserei lag inmitten der Betriebsanlage. Rundherum war alles im Wiederaufbau, da dieses Kombinat während des Krieges nach Sibirien ausgelagert worden war. Die alten Anlagenwurden wieder hergerichtet und neue Hallen errichtet. Eine Riesenaußenwandeiner Halle war langsam am Entstehen. Auf unserem Weg zur Werkstattkamen wir zweimal täglich an dieser Mauer vorbei. Da an dieser Mauer Kriegsgefangene aller "Feindnationen" beteiligt waren, und diese Mauer auch einen internationalen Eindruck hinterließ, nannten wir sie "die internationale Klagemauer". Wenn die Sonne genau an dieser Mauer entlang schien, konnte man die Buckeligkeit bestens erkennen. So wuchs diese Wand langsam aber sicher hoch.

Eines Tages aber gab es Unruhe an dieser Wand. Russische Offiziere und sonstige Persönlichkeiten machten sich daran zu schaffen. Sie fotografierten und notierten. Hierbei wurden sie von uns argwöhnisch beobachtet. Weiß Gott, was da nur los war. Soviel Dienstgehabe ist in Russland nie ein gutes Zeichen. Einige Zeit verging, und diese Angelegenheit war schon fast vergessen. Aber dann ging es los. Ein ganzes Filmteam erschien mit Kameras und Mikrophonen. Kabel wurden verlegt und Scheinwerfer aufgestellt, Gerüste und Förderbänder montiert. Zement, Kalk, Sand, und was sonst alles gebraucht wurde, wurde bereitgestellt.

Rekordversuch im Maurern

Am nächsten Morgen um 9 Uhr ging es los. Und was ging nun los? Irgendein "Stachanow" wollte eine Rekordleistung vollbringen. Bis zum Nachmittag um 15 Uhr wollte er eine Höchstzahl Quadratmeter von Mauerwerk erstellen. Und dies sollte öffentlich in Wochenschauen und anderen Medien dem Sowjetvolke kundgetan werden. Wir waren jetzt begeisterte Zuschauer dieser Aktion. Der Supermaurer war das Endglied dieser Kette. Folgendes spielte sich ab: Unten waren eine Kalkwanne und eine große Mischwanne. Einen Betonmischer hatten wir nicht gesehen. Es wurde alles manuell gemacht. Einer fuhrwerkte immer unten im Kalk herum, und drei Mann waren an der großen Mischwanne beschäftigt und machten Speiß. Sie rührten und pflügten das Gemisch aus Sand, Zement, Kies und Kalk mit Wasser durcheinander. Die Wanne war recht groß, und der fertige Speiß wurde beim Mischvorgang langsam aber sicher an das eine Ende der Wanne hin bewegt. Von hier wurde er in Behältern auf das Förderbandgestellt und nach oben zu dem "Stachanow" gebracht. Ebenso war es mit den Ziegelsteinen, auch diese gingen mit den Förderbändern nach oben. Oben auf dem Gerüst war dann noch eine Truppe, die dem Supermaurer alles handgerecht darreichte. Es war eine Emsigkeit wie in einem Ameisenhaufen.

Da das Material vorher in Hülle und Fülle bereitgestellt war, gab es auch nicht die üblichen Engpässe bei der Nachschubversorgung. Die Mittagszeit wurde per Stoppuhr festgehalten, sodass nicht geschummelt werden konnte. Dieses ganze Rekordtheater fand sowieso unter Aufsicht eines "Generalstabes" statt. Im Grunde klappte alles wie am Schnürchen. Der Maurer war zwar die Haupt-Endfigur, aber ohne seine Truppe wäre er nur eine Null gewesen. So ging es weiter bis zum Nachmittag um 15 Uhr. Ein Pfeifsignal beendete dieses sogenannte "Stachanow-Rennen". Jetzt trat die Prüfungskommission in Erscheinung, und mitgroßen Maßbändern wurde die gemauerte Fläche der Wand ermittelt. Während dieser ganzen Aktion schnurrten die Filmkameras und nahmen aus allen Perspektiven dieses Ereignis auf. Als die Quadratmeterfeststanden und bekannt gegeben wurden, gab es wie üblich das Geklatsche der gegenseitigen Belobigung.

Herausforderung

Der Maurerbrigadier unserer deutschen Arbeitsbrigade schüttelte den Kopf und meinte, mit solchem Aufwand wäre es keine Kunst, eine derartige Leistung zu vollbringen. Erstens: Es seien ja auch keine Gefangenen, die jeden Tag zweimal 6 km zu laufen hätten, und zweitens seien sie normal ernährt und hätten nur kurze Wege zur Arbeitsstelle. Diese Rekordtruppe sei ja sogar am Tage der Aktion bis zum Arbeitsplatz gefahren worden. Der russische Natschalnik war verdutzt, so etwas zu hören. Das dabeistehende Gremium war auch nicht glücklich über diese Kritik. Sie sagten ganz frech: "Das sollen sie erstmal beweisen!" Es kam sogar zu Verhandlungen zwischen der russischen Kommandantur, dem Kombinat und der deutschen Maurerbrigade. Es wurden die gleichen Bedingungen ausgehandelt wie sie bei der russischen Brigade waren: Förderbänder, Wannen, Gerüst und alle Materialien. Die letzte Bedingung war: 4 Wochen für die Maurerbrigade bessere Verpflegung, und 2 Wochen vorher vom Lager zum Arbeitsplatzgefahren zu werden und auch wieder zurück. Dieses wurde akzeptiert.

Die Vorbereitungen liefen, und der Stichtag kam. Es war zwar kein Filmteam da, aber eine gemischte Kommission von Kombinat, Lagerleitung und einer deutschen Abordnung. Sie kontrollierten das Geschehen. Wie gesagt: Es waren nicht mehr und nicht weniger am Werken als bei der russischen Aktion. Es kam also nur auf Organisation und Geschick an.

Ehrliche Begeisterung über unsere Leistung

Um 9 Uhr fiel der Startschuss, und es ging los. Alsdann am Nachmittag um 15 Uhr das Pfeifsignal zum Abschluss ertönte, war die Spannung groß. Es wurde wiederum gemessen und gerechnet. Und siehe da: Unsere Truppe hatte einige Prozente mehr geschafft! Auch hier waren die Russen ehrlich begeistert und klatschten laut Beifall. Der Natschalnik fiel unserem Brigadier in die Arme, und sie küssten sich. Dieser Wettstreit fand sogar im Lager am Schwarzen Brett Beachtung und wurde hochgeehrt und mit Prämien belohnt. Nachdem dies alles vorbei war, kam langsam der Winter, und das Arbeitsleben ging wieder seinen normalen "sozialistischen" Gang.

Wir waren in diesem Kombinat frei im Arbeitseinsatz. Ich habe in dieser Zeit als Spengler viel mit Blechen zu tun gehabt. Da viele Teile des Kombinats neu erstellt bzw. wieder instandgesetzt wurden, hatte ich an sich interessante Aufgaben, wie Lüftungskanäle, Abluftanlagen, Abzugshauben usw. herzustellen und auch zu montieren. Hierzu wurde auch eigenartigerweise gutes Blech zur Verfügung gestellt.

Da der Hunger unser bester Lebensbegleiter war, machten wir auch viel Schwarzarbeit wie Kochtöpfe, Eimer, Gießkannen usw. für die russischen Mitarbeiter, die uns dafür mitBrot, Tabak, Machorka oder Kartoffeln bedachten.

Empfohlene Zitierweise:
Elfering, Kurt: Die "Klagemauer" in Borowitschi, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/kurt-elfering-die-klagemauer-in-borowitschi.html
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