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Kurt Elfering: Diskussionen und Resolutionen

Dieser Eintrag stammt von Kurt Elfering (*1922). Kurt Elfering berichtet in mehreren Abschnitten von seinem Transport ins Gefangenenlager, über die Lebens- und Arbeitsbedingungen im Lager bis zu seiner Heimkehr Ende April 1948.

Politisches Leben im Lager

Das Lagerleben in russischer Kriegsgefangenschaft in Borowitschi beinhaltete oft auch politische Informationsabende. Man hatte immer Gründe, um zu einer solchen Veranstaltung aufzurufen. Im neuerbauten Klub- oder auch Kulturhaus, wie man es auch nennen wollte, fanden diese Veranstaltungen statt. Das Thema war immer die politische Umerziehung. Oben auf dem Podium standen mehrere Antifa-Propagandisten und hielten Vorträge über den Sozialismus. Einmal ging es um die volkseigenen Betriebe und auch über die Errungenschaften des sozialistischen Lagers. Anschließend wurde die kapitalistische Welt des Westens niedergeredet und hielt auf keinem Fall einen Vergleich mit dem Osten stand. Nach einer gezielten Vortragsreihe wurden wir zu einer Diskussion aufgefordert. Zunächst betretenes Schweigen, bis irgendein Halbantifamann die Diskussion eröffnete. Ab und zu kam auch mal etwas dabei heraus. Hier ging es jetzt um die sozialistische Planwirtschaft und um die freie Marktwirtschaft. Bei der FDJ-Tagung in Nowgorod war uns dies ja schon einmal erklärt worden, aber aus Zeitmangel gab es damals keine Diskussionen. Hier baute sich aber eine auf.

Problemfall: Schuhe

Das Thema Schuhe wurde aufgegriffen. Einer hatte den Mut zu fragen, warum die Versorgung mit diesen Artikeln so problematisch sei. Die Schuhe, die vorhanden waren, waren robust und auch stabil. Aber die man brauchte, waren schwer oder auch gar nicht zu bekommen. Die Erklärung war ganz einfach und auch plausibel. Der Krieg habe das Land verwüstet, und die Anlaufschwierigkeiten müssten erst überwunden werden. Aber bei der Planwirtschaft sieht das trotzdem etwas anders aus. Ein Beispiel:

100.000 erwachsene Männer teilen sich in folgende Schuhgrößen auf:

60% haben die Größe 42

15% haben die Größe 43

5% haben die Größe 44

10% haben die Größe 41

5% haben die Größe 40

5 % aufgeteilt auf die restlichen Größen.

Bei den Damengrößen war es ebenso, jedoch waren es andere Größenordnungen. Zur Auswahl hatte man vielleicht 5 Modelle von jeder Gruppe zur Verfügung. Da man davon ausging, dass ein Paar Schuhe 3 Jahre zu halten hatte, waren diese Mengen eine Dreijahresproduktion, die in einem Arbeitsprozess durchgezogen wurde. So konnte es geschehen, dass kurz vor Ablauf der drei Jahre die Engpässe da waren. Bei den Kinderschuhen wurde nach dem gleichen Verfahren gehandelt. Nebenbei spielte auch der Produktionsdruck eine große Rolle. Nur Leistung zählte. Die Leistung von einhundert Prozent musste erreicht werden. Im Leistungswettbewerb mussten sie sogar überboten werden. Dies ist nur ein Beispiel einer gelenkten Planwirtschaft. Die Gefälligkeit oder Schönheit des Produktes spielt auch nur eine Nebenrolle.

Leistungsnorm

Ein anderer Fall der Planwirtschaft: Wie schon berichtet, war die Leistungsnorm einhundert Prozent. Bei 120 % gab es Arbeiterbrot. Nun zu unserer Brigade: Wir mussten nach einer Liste eine Unmenge Winkeleisen ablängen und entsprechend lagern. Hiervon sollte ein Förderband gebaut werden. Wir machten mit unserer Hackerei 125 %. Neben uns war eine Kolonne damit beschäftigt, aus diesem Material Förderbandelemente zusammenzuschweißen. Die einzelnen Elemente hatten eine Länge von ca. 5-6 Metern und wurden neben unserer Schmiede auf freiem Gelände abgelagert. Die gesamte Förderbandanlage hatte eine ansehnliche Länge. Auch diese Kolonne machte 125 %.

Nebenan waren welche von uns dabei, die abgestellten großen Maschinen zu säubern. Mit Stahlbürsten und Schmirgelleinen waren sie voll in Aktion und schafften auch 125 %. Diese Maschinen waren Demontagestücke, kamen aus Ostdeutschland und waren recht groß. Kollergänge, Rührwerke usw, die für die Ziegelproduktion erforderlich waren. Sie standen schon dort, wo sie nach dem Bauplan hingehörten. Die Halle stand allerdings noch nicht, sie sollte später um diese Maschinen herumgebaut werden. Hier entstand auch die schon beschriebene Klagemauer. Der Winter hielt nun Einzug, und die gesamten Elemente der Förderbänder, und auch die gesäuberten Maschinen, schneiten langsam aber sicher ein. Als es Frühling wurde, und der Schnee abtaute, kamen wunderbare rostbraun gefärbte Gebilde wieder zum Vorschein. Alles war wunderbar eingerostet.

Tolle Leistung, aber schlechtes Produkt

Was nun? Im Handumdrehen wurden neue Kolonnen gebildet, die wiederum mit Stahlbürsten und Schmirgel ihre Arbeit begannen - übrigens wochenlang! Auch hier gab es wieder eine Dauerleistung von 125 %. In der Statistik waren überall tolle Leistungen verbucht. Nur das Produkt wurde immer schlechter und teurer. Hier hatten wir das beste Beispiel, wie eine gelenkte Planwirtschaft sich selbst im Wege stehen kann. Über diese Probleme wurde diskutiert mit dem Ergebnis, dass wir wohl noch nicht in die Tiefen der Planwirtschaft eingedrungen seien. Es sei ja auch nicht so einfach, sich als Marktwirtschaftler in der sozialistischen Planwirtschaft zurechtzufinden.

Eigentlich waren wir froh, dass wir überhaupt einmal so eine Diskussion führen konnten. Wir erlebten aber, dass unsere Propagandisten keineswegs in der Lage waren, so eine Situation zu beherrschen. Sie erklärten uns kurzerhand für nicht geeignet, das sozialistische System zu begreifen. Da kamen wir natürlich nicht gegen an. Die Diskussion verflachte und ging dem Ende entgegen. Anschließend wurden uns die schrecklichen Zustände in den deutschen Westzonen dargelegt, vor allen Dingen die verheerenden Auswirkungen des Marshallplanes, der ja nur wieder die Aufrüstung zum Ziele habe. Dagegen sei die Ostzone ein Hort des Friedens und der Zuversicht.

Resolution nach Bonn schicken

Zum Schluss der ganzen Geschichte kam immer irgendwer auf die Idee, eine Resolution nach Bonn zu schicken. Es wird wohl ein Beauftragter der Antifa gewesen sein. Jetzt ging es los. Vorschlag auf Vorschlag wurde den Antifa-Leuten zugerufen. Bewusst ironische waren auch dabei. Der Eifer der Propagandisten fand keine Grenzen. Die Vorschläge wurden so zurechtgefeilt, bis sie meinten, es sei eine gute Resolution geworden. Ich muss noch erwähnen, dass bei diesen Veranstaltungen niemals ein Russe anwesend war. Hier hatte die Antifa die volle Regie. Ich kann mir vorstellen, dass die russischen Offiziere nach dem Durchlesen dieser Schriftstücke, wohl manchen Unsinn erst gar nicht weitergeleitet haben.

Als die Resolution fertig war, gelangte sie zur Abstimmung. Die erste Frage war: Wer ist für die Annahme dieser Resolution? Alle Hände gingen hoch. Die zweite Frage: "Wer ist dagegen?" Alle Hände blieben unten. Bei Stimmenthaltung blieben auch alle Hände unten. So sind alle Resolutionen immer einstimmig angenommen worden. Wenn wir dann glücklich heimgehen wollten, kam dann noch einer von der Antifa auf die Idee, mit einem sozialistischen Kampflied den Abend zu beenden. Ich glaube, in allen Gefangenenlagern in der Sowjetunion liefen diese Veranstaltungen nach dem gleichen Muster ab.

Ungewollte Pause für "Meister Hämmerlein"

Mit meiner Hämmerei als Klempner hatte ich plötzlich Schwierigkeiten mit meinem rechten Arm. Da es immer schlimmer wurde, meldete ich mich eines Morgens krank. Ich blieb im Lager und musste um 9 Uhr in der Krankenbaracke zur ärztlichen Untersuchung erscheinen. Und was war los? Die Ärztin stellte eine Sehnenscheidenentzündung fest. Jetzt hatte "Meister Hämmerlein" erst einmal Pause. Der Arm wurde mit zwei Holzleisten geschient und musste zwei Wochen ruhen. Da ich aber nicht leidend krank war, zog ich in eine Ruhebaracke ein. Diese war ein Teil einer Lagerstammbaracke. Hier waren z. B. auch die Kulturgruppen untergebracht. Eine abgeteilte Ecke diente uns hier als Zeitunterkunft. Wir waren also "Kurzzeitinvaliden". Hier konnten wir Zeitungen lesen, sozialistische Werke studieren. Propagandamaterial in sozialistischer Richtung war reichlich da.

Jemand von der Antifa hatte erfahren, dass ich in Nowgorod an der sogenannten FDJ Tagung teilgenommen hatte, und verpflichtete mich, hier auch noch einen Vortrag über den Sozialismus zu halten. Da wir nur eine kleine Gruppe waren, wurde es mehr eine Unterhaltung als ein Vortrag. War auch gut so.

Auszeit vom "sozialistischen Alltag"

Da der rechte Arm geschient war und in einer Schlinge zur Ruhe gezwungen wurde, konnte ich mit meiner Malerei auch nichts anfangen. In dieser Lagerstammbaracke spielten sich auch einige Besonderheiten ab. Hier sollten angeblich auch einige Urlauber aus dem Gefangenenbereich Ferien machen. Verdiente "Wiedergutmacher" hatten hier so etwas wie einen Jahresurlaub. So richtig dahintergekommen sind wir nie. Einmal machte man mit uns sogar einen Spaziergang oder Ausflug in die äußere Umgebung des Lagers. Dieses fand ohne Bewachung statt. Nur zwei Antifabegleiter gingen mit uns. Hierbei pflückten wir auch Heidelbeeren.

Die Zeit ging herum, und mein Arm beruhigte sich wieder. Nach zwei Wochen gab's wieder eine Untersuchung, und ich wurde von der Ärztin wieder gesund geschrieben. Der sozialistische Alltag hatte mich wieder.

Empfohlene Zitierweise:
Elfering, Kurt: Diskussionen und Resolutionen, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/kurt-elfering-diskussionen-und-resolutionen.html
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