Zeitzeugen > Geteiltes Deutschland: Modernisierung

Lutz Baumann: Der Beat und die Westsender

Dieser Beitrag wurde von Lutz Baumann (*1953) im Jahr 2014 in Berlin verfasst.

Der Beat und die Westsender

Gewöhnlich trafen wir uns, wenn wir unsere Hausaufgaben erledigt hatten, bei schönem Wetter auf dem Marktplatz. Wir, das waren mein Schulfreund Jürgen und noch ein anderer Kumpel, der aber erst später zu uns stieß, da er schon als Hilfsschlosser beim VEB Spezifa in Adlershof arbeitete. Wir dagegen waren noch Schüler der zehnten Klasse der Polytechnischen Oberschule und sollten uns jetzt, wir schreiben das Jahr 1970, eigentlich auf unsere Abschlussprüfung vorbereiten.

Etwas am Rand des Adlershofer Marktplatzes standen links und rechts neben einem Brunnen aus Granit mit Wasserspeier, der aber nie Wasser von sich gab, zwei rot gestrichene Bänke mit massiven gusseisernen Füßen. Auf den Bänken saßen die Adlershofer Jugendlichen gerne mit ihren Kofferradios und hörten Beatmusik, die von den westlichen Rundfunksendern frei Haus geliefert wurde, da es der SED nicht möglich war, ihre Mauer bis in den Äther auszudehnen. Und Störsender, wie in der Zone üblich, konnten in Berlin nicht zur Anwendung kommen, das hätte Ärger mit den westlichen Alliierten gegeben und darauf wollte es Walter Ulbricht nicht ankommen lassen.

Beat ab 15 Uhr über UKW und Kurzwelle

Die Programme der Westsender wurden in Berlin über Mittelwelle und Ultrakurzwelle ausgestrahlt. Am besten hatten es die Besitzer von Kofferradios, die über UKW verfügten. Denn UKW gewährleistete einen absolut störungsfreien Empfang. UKW machte aber erst nach 16 Uhr Sinn, da vorher keine Programme von den beiden deutschen Sendern RIAS oder SFB mit Beatmusik gesendet wurden. Wollte man schon ab 15 Uhr Beat hören, so musste man sich mit dem 49 oder 41 Meter-Band der Kurzwelle zufrieden geben. (Radio Luxemburg auf Kurzwelle kam nicht in Frage, um diese Zeit spielten sie nur deutsche Schlager.) Hier war es der Sender „Radio Freies Europa“, eine amerikanische Station, die ihr Geld von der CIA bekam und für die Bewohner des Ostblocks in ihrer Landessprache sendete, mit seinem ungarischem Programm, das eigentlich für ungarische jugendliche Hörer bestimmt war. Der Sender stand in München, konnte aber in Ost-Berlin einigermaßen, wenn auch mit leichten Schwankungen, gehört werden. RFE, wie er kurz genannt wurde, heute noch allen älteren Osteuropäern ein Begriff, spielte die neuesten Hits der gängigen Gruppen wie Stones, Beatles, Kinks, Animals, Who, Cream, Led Zeppelin, Small Faces, Move, CCR, Hendrix, Doors, Bob Dylan, Janis Joplin, usw. Auch die ganzen Soul-Größen standen mit auf dem Programm. Der damals schon vorhandene kommerzielle Teeny Pop, die sogenannte Bubble Gum-Musik (eine der bekanntesten Gruppen war der Ohio Express), die aus den USA kam, wurde zwar auch mal gespielt, aber sie dominierte nicht die Sendungen. Die Musik wurde nur kurz vor den Nachrichten zu jeder vollen Stunde unterbrochen. Dieses Programm wurde jeden Tag ausgestrahlt und dauerte bis 19 Uhr.

„Beat nach der Schule“ im Deutschlandfunk

Es gab eine Ausnahme: Der Deutschlandfunk hatte von 14 bis15 Uhr eine Sendung, die nannte sich „Beat nach der Schule“. Deutschlandfunk sendete sein Programm auf Mittelwelle und war in Berlin nur mit ziemlichem Rauschen zu empfangen. Das störte mich nicht, Hauptsache es war Beat. Gewöhnlich machte ich um diese Zeit meine Hausaufgaben und meine Mutter, die schon zu Hause war, da sie nur halbtags arbeitete, machte jedes Mal Theater, wenn ich bei den Schularbeiten Beatmusik hörte. Da ich kein eigenes Zimmer besaß, musste ich mich zwangsläufig in unserer Wohnstube aufhalten, denn die elterliche Wohnung bestand nur aus Wohnzimmer, ein von der Küche durch eine Sperrholzwand abgetrenntes Schlafzimmer, einem Bad, wie damals üblich mit Kohlebadeofen, und einem kleinen Flur.

Ab Augst 1969 war ich stolzer Besitzer eines Transistor-Kofferradios der Marke Sonneberg 6000 mit UKW und Teleskopantenne zum Kurzwellenempfang. Die 480 Ostmark, die das Gerät kosteten, waren zu dieser Zeit fast ein Monatsverdienst eines ungelernten Arbeiters. Dafür hatte ich in den großen Schulferien jeweils drei Wochen, 1968 und 1969, im Kabelwerk Adlershof und im VEB Berlin Chemie gearbeitet. Mit dem Besitz des Radios konnte ich in die Küche ausweichen, wenn ich Musik hören wollte. Das war vorher nicht möglich und so saß ich abends, montags und dienstags, mit dem Ohr am Lautsprecher des alten UKW-Röhrenradios, wenn ich von der BBC um 21 Uhr „Platten a la carte“ oder „Eine kleine Beatmusik“ hörte, während meine Eltern im Sessel vor laufendem Fernseher schliefen. Diese beiden Sendungen kamen via UKW BBC Berlin zu den Ost-Berliner Hörern und waren extra Wunschsendungen für die Beat-Fans im Osten. Peter Saler moderierte eine halbe Stunde „Platten a la carte“ und am Dienstag Heidi Grundmann um 20:45 Uhr „Eine kleine Beatmusik“. Bei Heidi Grundmann wurden immer ein Beatles- und ein Stones-Titel gespielt. Für Fans im Besitz eines eigenen Tonbandgerätes waren diese beiden Sendungen ein absolutes Muss.

Die Hörer mussten sich schon einiges einfallen lassen, damit ihre Musikwünsche überhaupt erstmal zu den Sendern kamen. Es wurden zwar immer Deckadressen angegeben, aber wie sich nach dem Mauerfall herausstellte, landete ein großer Teil der Post direkt bei der Stasi in der Abteilung M, die für die Postkontrolle zuständig war. Am nächsten Tag wurden dann die gespielten Titel in der Schule ausgewertet. Ich konnte leider zu dieser Zeit nur von einem Tonbandgerät träumen. Mein Kumpel Detlef S. nahm dagegen jede Sendung auf und es war besonders wichtig, dass die Titel alle bis zum letzten Ton ausgespielt wurden. Er besaß, da er schon arbeitete, und so über eigene Einkünfte verfügte, ein tschechisches Tesla B4 mit vier Aufnahmespuren. Obwohl schon volljährig, wohnte er noch bei seiner geschiedenen Mutter. Ich kann mich nicht mehr erinnern, ob er ein eigenes Zimmer besaß oder seiner Mutter in die Quere kam und sie beim Fernsehen störte.

Jugendprogramm „SFBeat“ und Politisches aus dem Westen

Doch zurück zum Radioprogramm: Ende der sechziger Jahre entschlossen sich die Chefs vom Sender Freies Berlin (SFB) ein tägliches einstündiges Jugendprogramm einzurichten, das dann ab 3.3.1967 unter dem Namen „SFBeat“ auf SFBII auf UKW auf Sendung ging. Von 18:05 Uhr bis 19 Uhr hörte ich, wenn auch manchmal unter Streit mit meinem Vater, SFBeat. Höhepunkt war dann immer zum Schluss der Sendung der Hit des Tages, worüber die Hörer im Westen, die ja damals schon meist über Telefon verfügten, telefonisch abstimmten. Dieses Jugendmagazin war bei uns äußerst beliebt, die Ansager trafen genau den richtigen Ton der jugendlichen Hörer, es wurde nur Beatmusik gespielt, man erfuhr auch etwas zu politischen und kulturellen Ereignissen. Zu dieser Zeit war ja auf den Straßen Westberlins immer was los, der Vietnamkrieg tobte, die APO beherrschte mit ihren Aktionen den Ku‘damm, darüber berichten Reporter und auch die Gegenmaßnamen des Staates wurden kritisch kommentiert. Die Leute von der APO hatten sehr lockere Sprüche drauf, wie „Bürger, kommt aus dem Bordell, unterstützt die FNL“ oder „Vietnam: Amis raus! Bombt doch mal das Springer-Haus“.

Teufel, Dutschke, Kunzelmann, Langhans usw. sorgten für Schlagzeilen und Aufregung bei den Westspießern und im Osten konnte man von den Erwachsenen hören: „Oh wie gut, dass es so etwas bei “uns“ nicht gibt.“ Diese Aktionen wurden auch von der Ostpresse kommentiert und abends konnte man sie in der Berliner Abendschau des SFB Fernsehen bewundern, wenn mal wieder ein Hörsaal der FU besetzt wurde oder eine Demonstration auf dem Ku‘damm stattfand und dann die Wasserwerfer der Polizei zum Einsatz kamen. Was mich irritierte, waren die Bilder von Mao oder manchmal sogar von Stalin, die die Demonstranten mit sich führten. Wir im Osten lehnten zwar das sozialistische System sowjetisch-ulbricht‘scher Prägung ab, man wusste aber eben auch durch die Westmedien von den Schwächen der bürgerlichen Demokratie. Man hörte von den alten Nazis, die noch immer in Amt und Würden waren, Neonazis in Gestalt der NPD wurden in Länderparlamente in Westdeutschland gewählt, Kiesinger, ein ehemaliges NSDAP-Mitglied, war Bundeskanzler, trotz aller Demonstrationen waren die Notstandsgesetze nicht verhindert worden. Das traf zwar alles nicht für West-Berlin zu, hier herrschte immer noch alliiertes Recht. Westberlin wurde von der Bundesrepublik künstlich am Leben gehalten, doch auch hier gab es genug Schattenseiten.

Zurück zum „SFBeat“: Interessant für uns im Osten waren die Veranstaltungshinweise beim „SFBeat“: Diskotheken, Kneipenkonzerte etc. Man konnte sich das einfach nicht vorstellen, so was gab es in dieser Form einfach nicht in Ost-Berlin.

RIAS II und Piraten-Sender

Wer kein Interesse an einer Magazinsendung hatte, der hörte AFN auf der Mittelwelle oder ab 19 Uhr beim niederländisch-sprachigen Programm von Radio Luxemburg im 49m Band auf Kurzwelle unter seinem Stardiskjockey Peter Koelewijn die neuesten internationalen Hits. Nach 20 Uhr war dann Radio Luxemburg auf Englisch der einzige Sender, der Beatmusik die ganze Nacht sendete. Später, ab 21 Uhr, war es dann möglich, Luxemburg auch auf Mittelwelle zu empfangen. Eine Sendung darf nicht vergessen werden, das war der „RIAS Treffpunkt“, der jeden Sonnabend ab 16:40 Uhr und dann später ab 16 Uhr bis 18 Uhr ein spezielles Jugend-Programm auf RIAS II ausstrahlte. Hier wurde nur Wunschmusik gesendet und dies wieder speziell für die Hörer hinter der Mauer. Diese Sendung war mit am wichtigsten für alle, die Musik aufnehmen wollten, und Titel der Rolling Stones standen ganz oben auf der Wunschliste der Fans. […]

Zwei Stationen habe ich noch vergessen: Es handelte sich um sogenannte Piraten-Sender, die von zwei Schiffen, die außerhalb der Drei-Meilen-Zone lagen und so nicht kontrolliert werden konnten, Beat in den Äther schickten: Radio Caroline und Radio Nordzee International. Die waren nur ganz spät abends zu empfangen und das in ziemlich schlechter Qualität. Sie strahlten rund um die Uhr Werbung und Beatmusik aus.

Ich kann mich nicht erinnern, damals jemals einen Ostsender gehört zu haben.

Zur Person

Lutz Baumann wird im Juni 1953 in Ost-Berlin geboren. Er besucht die 10-klassige polytechnische Oberschule, ist Mitglied bei den Jungpionieren und der Freien Deutschen Jugend. 1970 macht er eine Lehre als Bautischler, bevor er zwei Jahre später seinen Wehrdienst bei den Luftstreitkräften der Nationalen Volksarmee ableistet. Von 1974 an arbeitet er als Bauarbeiter im Volkseigenen Betrieb „Bau- und Montagekombinat Ingenieurhochbau Berlin“ (VEB BMK IHB) und dann als Hausmeister in einer Musikhochschule. Im September 1988 siedelt er – mit einem genehmigten Ausreiseantrag – in den Westen Berlins über und ist beim Deutschen Roten Kreuz tätig. Seit 2004 unterstützt er das Jugendwiderstandsmuseum in der Galiläakirche in Berlin Friedrichshain.

Empfohlene Zitierweise:
Baumann, Lutz: Der Beat und die Westsender, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-baumann-der-beat-und-die-westsender.html
Zuletzt besucht am: 20.04.2024

lo