Dieser Beitrag wurde von Lutz Rackow (*1932) in Berlin verfasst.
Zerstörungsgrad etwa 43 %
Das Berliner Stadtschloss wurde von Architekt Otto Rackow (1884–1958) im Auftrag des Stadtbauamts des Berliner Magistrats, etwa 1949/1950, detailliert begutachtet, sein Zerstörungsgrad geschätzt. Vor und während des auf Betreiben Walter Ulbrichts veranlassten Abrisses. Als sein Sohn, damals Abiturient auf der Fridtjof-Nansen-Schule in Berlin-Oberschöneweide, habe ich von meinem Vater erfahren, dass seine Schadensschätzung auf der Grundlage umfangreicher und detaillierter bautechnischer Untersuchungen aller Bauteile einen Beschädigungs-/Zerstörungsgrad des gesamten, riesigen Baukörpers von etwa 43 % ergab. Ganze Teile des Schlosses waren vor dem Abriss noch voll funktionsfähig gewesen und wurden damals auch weiter genutzt, u.a. für Ausstellungen.
„Schätzen Sie, was Sie sehen“
Diese Schätzung war nach meinem Wissen deshalb erforderlich gewesen, weil nach den damals geltenden Vorschriften ein Gebäude in Berlin erst bei einem Zerstörungsgrad von über 50 % abgerissen werden durfte. Das Gutachten meines Vaters, das bezüglich des Schlosses darunter blieb, wurde indessen dennoch von den Behörden im Ost-Berliner Roten Rathaus zunächst akzeptiert. Und dem Gutachter gemäß den geltenden Honorarordnungen bezahlt.
Dennoch erhielt er einige Zeit später denselben Auftrag zu einer erneuten Schadensschätzung. Bei der Neubesichtigung stellte er indessen fest, dass inzwischen bereits ganze Gebäudeteile abgerissen worden waren. Auf seine Nachfrage, was das bedeuten solle, wurde er vom Auftraggeber aufgefordert: „Schätzen Sie, was Sie sehen“.
Die neuerliche akribische Gesamtschätzung ergab nunmehr einen Zerstörungsgrad von etwa 48 %. Auch diese wurde angenommen und bezahlt. Anschließend wurde derselbe Auftrag einem anderen Architekten in Ost-Berlin übertragen, der dann einen Zerstörungsgrad von über 50 % meldete.
In den folgenden Jahren erstattete mein gemeinsam mit einem Bautechniker freiberuflich tätiger Vater als Auftragnehmer der Stadtbehörden in Ost- und West-Berlin noch zahlreiche Gutachten zur Schätzung und Bewertung von Gebäudeschäden durch Kriegseinwirkung. Er verfügte bereits zuvor über eine langjährige Erfahrung bei der Erstellung ähnlicher Gutachten im Auftrag von Hypothekenbanken und war in der damaligen Berliner Fachwelt für seine exakten Bewertungen respektiert. […]
Denkmalabriss in Berlin-Friedrichshagen
Auch in meinem Berliner Heimat-Vorort Friedrichshagen vergriffen sich übrigens 1945 die Kommandanten der Roten Armee vor Ort nicht am Denkmal des Preußenkönigs Friedrich II., der trotz zartem Wuchs als „der Große“ in die Geschichte eingegangen ist. Der Preußen-König, als feudaler Initiator der Ortsgründung angesehen, stützte sich als Denkmalsfigur recht zivil auf einen Krückstock und schaute anscheinend friedlich daher. Als habe er sich just im Augenblick die Trockenlegung des Oderbruchs ausgedacht. Das hinderte indessen ortsansässige Nachkriegsrevolutionäre nicht daran, den König ihrer Vorfahren vom Sockel zu stoßen und dann wohl irgendwann sein Bronze-Abbild zugunsten des Schrottaufkommens für die kommunistische Volkswirtschaft einschmelzen zu lassen.
Auch mit dem „historischen Maulbeerbaum“ aus der Zeit der Ortsgründung vor über 250 Jahren wurde zu SED-Zeiten, anlässlich einer banausischen Verschandelung des Brauerei-Grundstücks am Müggelseedamm mit einer Lagerhalle, nicht viel Federlesen gemacht. Einst als Zeugnis für den letztlich gescheiterten Versuch, dort Seidenraupen anzusiedeln, heimatkundlich als Wahrzeichen geschätzt, wurde der Baum-Veteran plötzlich als störend beseitigt. […]
Zur Person
Lutz Rackow wird am 10. Juni 1932 in Berlin geboren und wächst in Berlin-Friedrichshagen auf. Nach seinem Abitur ist er von 1951 bis 1956 zunächst als Volontär und später als Redakteur bei der Ost-Berliner LDPD-Tageszeitung „Der Morgen“ tätig. Von 1956 bis 1960 studiert er an der Technischen Universität in West-Berlin die Fächer Wirtschaft, Geschichte und Psychologie. Anschließend arbeitet er als freier Journalist zu den Themen Technik, Verkehr und Tourismus für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften sowie für den Rundfunk und das Fernsehen in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland. Von 1993 bis 1997 ist er als Berater der Robert-Bosch-Stiftung für Förderprogramme in Ostdeutschland tätig. Lutz Rackow lebt bis heute in seinem Geburtshaus in Berlin-Friedrichshagen. Er engagiert sich als Zeitzeuge und berichtet in Interviews, Vorträgen und Veröffentlichungen von seinen Erlebnissen.
Empfohlene Zitierweise:
Rackow, Lutz: Abriss des Berliner Stadtschlosses, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-rackow-abriss-des-berliner-stadtschlosses.html
Zuletzt besucht am: 03.10.2024