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Lutz Rackow: Komische GDR. US-Studenten in und auf dem Müggelsee

Dieser Beitrag wurde von Lutz Rackow (*1932) 2021 in Berlin verfasst.

US-Studenten auf Exkursion in Ost-Berlin

Sie trudelten in bester Bierlaune ein. An diesem strahlenden Maientag 1963 in unserem großen Garten am Berliner Müggelsee. Ein gutes Dutzend Studierende aus dem mittleren Westen der USA. Eine Seminargruppe Germanistik der Indiana State University. Geradewegs aus mehreren Kneipen unseres Ost-Berliner Vororts. Geleitet von ihrem Professor Dr. F. Piedmont, unserem Freund, der seit 1957 alljährlich bei uns über Tage und Wochen zu Gast war und blieb. Begünstigt von den Resten des alliierten Viermächtestatus für Gesamtberlin.

Das „Berliner Bürgerbräu“, beste Qualität zum Ostmark-Spottpreis, hatten die durch Europa tingelnden Mädels und Jungs schon in der Innenstadt, Hauptstadt der DDR, bei der Beschau von Mauer und klassischen Sehenswürdigkeiten kennengelernt, waren mit Tagestickets zu Minipreisen mit S-, U- und Straßenbahnen unterwegs, hatten das „komische Pappauto Trabant“ mit seiner Abgasfahne berochen. Alles für sie sehr erstaunlich. Obwohl Prof. P. ihnen bereits so viele Einzelheiten vorab geschildert hatte: Von Mini-Mieten in Neubauten, verfallenen Stadtvierteln, Niedrigpreisen für Brot und Braunkohlen, und von einer „volkseigenen Wirtschaft“ in Staatshand. Und der Diktatur nach Sowjet-Konzept. Ein Wirrwarr.

Ostdeutsch-amerikanisches Studententreffen

Die lustigen Besucher wurden erwartet. Aus einem vertrauten Bekanntenkreis hatten wir ein halbes Dutzend Gymnasiasten und Studiker zusammengetrommelt. Die waren ganz heiß darauf, mal mit echten Amis ihres Alters Tuchfühlung zu bekommen. Das klappte im Handumdrehen. Zunächst war ich bemüht, mit den eingetrockneten Beständen meines nur selten einsetzbaren Schulenglisch Ordnung in das Erlebnis-Durcheinander der Jung-Amis zu bringen. Und zwar klipp und klar die DDR als Administration der sowjetischen Kriegsbeute zu kennzeichnen. Wie sie total vormundschaftlich organisiert ist. Neuerdings auch wieder mit einer Wehrpflicht zu einer Armee. Mit ziemlich vielen früheren Wehrmachtsoffizieren. Alles als Pufferstreitkräfte im geostrategischen Konzept der Sowjetunion. Denn den „Kalten Krieg“, den gab es ja auch noch.

Besonders heikle Informationen vermittelte ich indessen nur einigen Interessenten bei einer Bootstour auf dem praktisch abhörsicheren Müggelsee. Hauptthema mit Vokabel-Problemen: Diese zutiefst verlogene ostdeutsche Administration mit einer aggressiven, pseudomarxistischen Trivial-Propaganda im Sowjetsold. Etwas viel für die kurze Zeit an Bord … Aber angekommen.

„Kameradschaftliche Annäherungen“

An Land war es inzwischen schon zu kameradschaftlichen Annäherungen gekommen. Adressentausch und Verabredungen. Die Amis blieben noch einige Tage in der Stadt. Mit ihrem US-Pässen konnten sie ja ziemlich problemlos hin und her über die Sektorengrenze zwischen Ost und West wechseln. Und sich nun einzeln treffen. So auch zum Besuch der Komischen Oper und des Brechttheaters.

Einige der Gäste kamen auch am nächsten Tag, nunmehr ohne Professor, zu einem weiteren „Meeting“ mit Schrippen-Snack zu uns. Sie hatten Fragen zu dieser eigenartigen DDR. Voller Widersprüche, aber nicht harmlos.

An einem späteren Abend trafen wir uns alle vor der Komischen Oper, wo es eine der weltberühmten Inszenierungen des österreichischen Intendanten Prof. Felsenstein zu erleben gab. Zum Glück frühzeitig, denn fast alle Studiker trudelten dort in ihrer Standardaufmachung ein: Turnschuhe, Sportjacke, Shorts, Ringelsocken, „bobby-socks“. A tempo wurden sie durch Prof. P. beordert, sich für den Opernbesuch ordentlich zu kleiden. Sie schafften es wenigstens noch zur ersten Pause. Wieder etwas gelernt über diese komische DDR.

Aus einigen der neuen Bekanntschaften unter den Junioren aus USA und Ost-Berlin sollen sich übrigens über Jahrzehnte stabile Freundschaften entwickelt haben. Das berichtete uns Ferdinand P., unser Professor aus Bloomington, den wir alsbald nach dem Mauerfall in den USA besuchten. Gemeinsam unternahmen wir eine kleine USA-Rundreise, als unser Sohn nach einem Jahr High School und [dem] Abi nahe wieder abgeholt wurde. […]

Die Freundschaft zu Prof. Piedmont

Wie es zu unserer Freundschaft mit dem Professor kam, das ist noch eine längere Geschichte. Mit Erstaunlichkeiten im Nachkriegsdeutschland. Piedmont stammte aus dem Rheinland, promovierte in Bonn, wurde Studienrat und reiste im Sommer 1957 in einem Studenten-Programm nach Rom, Neapel und Capri. Wie ich auch, als Student der TU-Berlin Charlottenburg (West-Berlin). Von meinem Wohnsitz und Geburtsort Berlin-Friedrichshagen in Berlin-Ost aus, wo ich heute noch ansässig bin. Piedmont und ich wurden schon auf der Hinreise zu Freunden. Bereits im nächsten Jahr besuchte er mich am Müggelsee. Von da ab fuhren wir alljährlich mit Genehmigung der Ost-Behörden gemeinsam kreuz und quer durch Ostdeutschland. Zunächst nach Weimar, denn P. war akademischer Schiller-Experte. Mehrfach per Boot zum Scharmützel-See. Nach dem Mauerbau, P. inzwischen US-Bürger, auch zur pommerschen Insel Hiddensee.

Reisen vor dem Mauerbau

Meine Reisen vor dem Mauerbau 1961, teilweise mit einem 9-PS-Motorrad, gingen nach Österreich, in die Schweiz, zum Gardasee und zu verstreuten ehemaligen Mitschülern, die alsbald nach dem Abitur 1950 nach Westdeutschland gewechselt waren. Einige allein deshalb, weil sie nur dort einen Studienplatz erlangen konnten. Der ihnen im Osten verweigert worden war, weil sie nicht aus der Arbeiterklasse stammten.

Diese meine Reisen [tat ich] alle in teilweiser Umgehung von DDR-Gesetzen. Mit Tricks und viel Reiselust. Angeregt vor allem vom Beispiel meines Vaters, fast lebenslang freiberuflich tätiger Architekt. Geboren 1884 und schon vor dem Ersten Weltkrieg in Europa unterwegs. Im Krieg berichtete er in der Familie von seinen vielen Reise-Erlebnissen. Auch an den langen Abenden in Erwartung von Fliegeralarm.

Und immer wieder Erzählungen von Capri als Trauminsel. Die wollte ich auch unbedingt erleben. Vor Ulbrichts Mauerbau eröffneten sich für solche Vorhaben noch etliche Möglichkeiten. Jenseits ostdeutscher Vorschriften. Mit Initiative und Courage und westdeutschem Pass, auf den man in der Bundesrepublik auch als Ostdeutscher einen Rechtsanspruch hatte.

Reisezeit konnte ich mir übrigens verschaffen, weil ich mir als schriftstellernder Journalist inzwischen eine Zulassung als „Freischaffender“ verschafft hatte. Übrigens später mit insgesamt acht (!) Pseudonymen. Siehe mein 600-Seiten-Buch „Spurensicherung“.

Zur Person

Lutz Rackow wird am 10. Juni 1932 in Berlin geboren und wächst in Berlin-Friedrichshagen auf. Nach seinem Abitur ist er von 1951 bis 1956 zunächst als Volontär und später als Redakteur bei der Ost-Berliner LDPD-Tageszeitung „Der Morgen“ tätig. Von 1956 bis 1960 studiert er an der Technischen Universität in West-Berlin die Fächer Wirtschaft, Geschichte und Psychologie. Anschließend arbeitet er als freier Journalist zu den Themen Technik, Verkehr und Tourismus für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften sowie für den Rundfunk und das Fernsehen in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland. Von 1993 bis 1997 ist er als Berater der Robert-Bosch-Stiftung für Förderprogramme in Ostdeutschland tätig. Lutz Rackow lebt bis heute in seinem Geburtshaus in Berlin-Friedrichshagen. Er engagiert sich als Zeitzeuge und berichtet in Interviews, Vorträgen und Veröffentlichungen von seinen Erlebnissen.

Empfohlene Zitierweise:
Rackow, Lutz: Komische GDR. US-Studenten in und auf dem Müggelsee, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-rackow-komische-gdr.html
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