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Lutz Rackow: Stalin-Geschrei im Spaß-Palast

Dieser Beitrag wurde von Lutz Rackow (*1932) in Berlin verfasst.

Redaktionseleve beim „Morgen“

In den ersten Monaten nach meinem damals hoffnungsvollen Berufseinstieg bei der in Ost-Berlin erscheinenden LDP-Tageszeitung „Der Morgen“, kaum ein Jahr nach meinem Abitur im Mai 1950, hatte ich ein exemplarisches Erlebnis im damaligen Friedrichstadt-Palast, [dem] „Haus der 3000“.

Dorthin war ich als Redaktionseleve kommandiert worden. Jedoch nicht, um mich an Spaß, Gesang und langen Ballett-Beinen zu erfreuen, an Darbietungen, über die bis heute insofern halbblinde Chronisten bei jeder dazu passend erscheinenden Gelegenheit schwärmen. Sondern als Zwangsgast bei einem Politspektakel zur Feier sowjetischer Weltagitation. Wieder ein Kotau hier bei uns im Zentrum des Beutegebiets, zwei Jahre zuvor zu „DDR“ umbenannt. Für mich war es ein Politschock zu einer Zeit, als auch von den Kommunisten noch ständig propagandistisch von der wieder zu erlangenden Deutschen Einheit schwadroniert wurde. Immerhin gab es andererseits auch in meiner Zeitung damals sogar noch einige Redakteure und Kommentatoren aus West-Berlin, die zumindest in Redaktionskonferenzen recht eigenwillige Sprüche zur Tagespolitik zum Besten gaben.

„Stalin, Stalin, Stalin“

Zwei Jahre später, nach Stalins Tod, im Juni 1953, wären all die Jubel-Stalinisten im Friedrichstadt-Palast samt ihrer landesverräterischen Opportunisten-Kader in Stunden davon gefegt worden, wenn ihre Moskauer Beschützer nicht ihre Panzer losgelassen hätten. Damals, 1951, im Friedrichstadt-Palast – noch das einstige Zirkus-Gebäude an der Spree, das erst später abgerissen werden musste, weil selbst der Baugrund die nun häufigen neuen Politspektakel wohl nicht länger ertragen wollte – musste ich also eines Tages stundenlang ausharren. Es war in emphatischen Bekundungen kommunistischer Funktionäre aus etlichen europäischen Länden unisono davon die Rede, wie gut der Weltfriede in der Obhut Stalins im Moskauer Kreml geschützt würde. Und jedes Mal, wenn am Rednerpult in jedem Beitrag der Name „Stalin“ genannt, gerufen, bejubelt wurde, sprangen alle 3000 Jubelanten wie von Taranteln gestochen auf und skandierten endlos „Stalin, Stalin, Stalin!“ Wie völlig von Sinnen.

Sprachlos in der Redaktion

Ich torkelte hinaus und musste mehrfach per Presseausweis nachweisen, dass mich ein Redaktionsschluss-Termin dazu zwang. Dort im „Morgen“ erklärte ich mich außerstande von diesem Schock unter Polit-Irren auch nur irgendetwas zu Papier bringen zu können. Es fanden sich Vorgesetzte, die dafür Verständnis hatten. Und mich nie wieder solchen Zumutungen aussetzten. Bis ich diesen ganzen opportunistischen Parteiladen „Der Morgen“ selbst nach sechs Jahren endgültig satthatte und meinen Job hinschmiss. Inzwischen war ich bereits als Kaderreserve für den Posten des Chefredakteurs gehandelt worden.

Lieber wurde ich stattdessen wieder Student. Jedoch nicht im Osten, sondern an der Technischen Universität in Berlin-Charlottenburg. Also in West-Berlin. Und schaffte dort noch ein ordentliches Diplom, bevor die Mauer gebaut wurde.

Zur Person

Lutz Rackow wird am 10. Juni 1932 in Berlin geboren und wächst in Berlin-Friedrichshagen auf. Nach seinem Abitur ist er von 1951 bis 1956 zunächst als Volontär und später als Redakteur bei der Ost-Berliner LDPD-Tageszeitung „Der Morgen“ tätig. Von 1956 bis 1960 studiert er an der Technischen Universität in West-Berlin die Fächer Wirtschaft, Geschichte und Psychologie. Anschließend arbeitet er als freier Journalist zu den Themen Technik, Verkehr und Tourismus für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften sowie für den Rundfunk und das Fernsehen in der DDR und im wiedervereinigten Deutschland. Von 1993 bis 1997 ist er als Berater der Robert-Bosch-Stiftung für Förderprogramme in Ostdeutschland tätig. Lutz Rackow lebt bis heute in seinem Geburtshaus in Berlin-Friedrichshagen. Er engagiert sich als Zeitzeuge und berichtet in Interviews, Vorträgen und Veröffentlichungen von seinen Erlebnissen.

Empfohlene Zitierweise:
Rackow, Lutz: Stalin-Geschrei im Spaß-Palast, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL:http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/lutz-rackow-stalin-geschrei-im-spaß-palast.html
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