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Norbert Prusko: Kindheit in der Zechensiedlung

Dieser Beitrag wurde von Norbert Prusko (*1951) 2021 verfasst.

Jungenbanden in der Bergbausiedlung

[…] In der Siedlung gab es eine Vielzahl an Kindern in allen Altersgrößen, aus kleinen Familien und welche mit bis zu zehn Kindern. [Solch ein] Zusammenleben mit so vielen Personen, in der gleichen Wohnung, wie wir sie hatten, [das war] für mich nicht vorstellbar. Einige Eltern der Großfamilien traten kaum in Erscheinung, aber bemerkenswert ist, wie fürsorglich die Kinder dieser Familien miteinander umgingen, und die älteren Geschwister übernahmen für die jüngeren Geschwister draußen beim Spielen die Begleitung und Fürsorge.

Es gab eine Jungengruppe, eine kleine Jungenbande, auf die ich traf. Der Anführer gab mir zu verstehen, dass er von mir Taten sehen will, um mich besser einschätzen zu können. So packte ich den, der neben dem Wortführer stand, warf ihn zu Boden und fragte, ob das erst mal reichen würde. Es genügte tatsächlich, so wurde ich in die Gruppe anerkennend aufgenommen. Man erklärte mir unseren Machtbereich und wo die Grenzen waren. Nach der einen Seite, in Richtung Kokerei, sah man über ein sumpfiges Gelände, dahinter hellweißfarbige Wohnblocks in gerader Linie zu uns. Da waren die anderen, die Gegner, als Feindbild. In entgegengesetzter Richtung, zum Endstück unserer Straße, war ein Bereich, den man mit Respekt und Abstand behandeln musste, denn da wohnten Familien mit etwas älteren Kindern, mit denen wir nicht mithalten konnten und die auch deshalb als gefährlich galten. Ein weiterer Zusammenhalt unserer Bande wie am Tag, an dem ich zu der Gruppe kam, hat sich nicht mehr weiterentwickelt. Wir waren uns gut bekannt und wir trafen uns, wie der Zufall es wollte. […]

Ein altes Rieselfeld als Abenteuerspielplatz

[…] Jeden Tag war ich draußen in der Umgebung und die hatte einiges zu bieten. Das Sumpfgebiet mit Salamandern und Sauerampfer, Fröschen und Eidechsen, dazwischen die Köttelbecke, ein offener, mit steilen Betonplatten abgefasster Abwasserkanal, den man überspringen musste, um auf das weitere dahinterliegende Sumpfgelände zu kommen. Die verwilderten Gärten mit alten Kirsch- und Apfelbäumen, Beeren- und Ziersträuchern zugewuchert. Auf der anderen Seite des Weges, Mühlenbruch genannt, und weit darüber hinaus [gab es] Sumpfwiesen und Getreidefelder, soweit die Aussicht es zuließ. Man brauchte bloß loslaufen und die Augen aufmachen, um diese Vielfalt und was es an Möglichkeiten gab, zu erleben. Mit Gummistiefeln und kurzbeiniger Lederhose ausgestattet, so wie mein Vater sich unsere Kleidung ausgesucht hatte, konnte man schon einiges wagen und war doch geschützt. Die Möglichkeiten im Sumpfgebiet zu laufen, hatten aber auch ihre Grenzen des Machbaren. Im Durchsteigen des Sumpfgeländes ging es schon mal tiefer als die Gummistiefel an Sicherheit boten. Eine schmierige, morastige Masse, in allen Brauntönen bis Hellgelb, drang über den Stiefelrand und mein Fuß fühlte, was eigentlich in dem Stiefel nichts zu suchen hatte. Das Sumpfgebiet war ein altes Rieselfeld, auf das ein naheliegendes Wohnviertel […] [seine] Abwässer abführte. Meine Mutter sagte nichts zu diesen Vorkommnissen, denn das war nicht nur einmal, dass mir der Schlamm im Stiefel steckte, und half mir aus dieser Not. […] Irgendwann kam auch mein Bruder in den Genuss der Gummistiefel. Der zeigte mir, als wir uns auf unserer Straße begegneten, was man mit Gummistiefeln noch erreichen kann. Er fragte mich, ob ich schon so etwas versucht oder gesehen hätte. Er kletterte die gasbetriebene Straßenleuchte mit guter Haftung der Gummistiefel am Leuchtenmast hinauf, bis er den Ringzug der Laterne erreichen konnte und zog daran. So wurde die Gaslaterne mit ihrer ganzen Leistung zum Leuchten gebracht. Ein wahres Kunststück! Alle, die es sahen, waren beeindruckt, so etwas hatte uns noch keiner geboten. […]

Neue Fortbewegungsmöglichkeiten

[…] [Die Besorgnis], dass ich mich nicht genug bewegte – so einen Eindruck machte ich wohl bei meinem Vater – kam dann bei meinem Geburtstag zum Ausdruck. Das hatte ich nicht erwartet! Zum Geschenk bekam ich sehr solide Rollschuhe mit Eisenrollen von der Herstellerfirma Hudora. Das war auf unserer Straße auch im Trend, aber niemand hatte diese Eisenrollen und die Fahrweise mit diesen Rollschuhen musste auch gut geübt werden. Unsere Straße, eine Sackgasse, war die Abfahrtsstrecke für alle Kinder jeden Alters, denn ein Auto erwarteten wir selten. Die Rollschuhläufer gaben sich ein Rennen nach dem anderen, denn jeder wollte wissen, ob er der schnellste auf der Straße ist. Die Rennstrecke musste gesichert werden und Kinderfahrräder, Dreiradtreter und Tretroller wurden an den Straßenrand gebracht. Meine Eisenrollschuhe waren glatt auf dem Asphalt, aber die Rollen gaben mir so einen Schwung, dass ich sehr oft das Rennen gewann. Das Rollschuhlaufen habe ich ausgeweitet und bin weit über den Stadtteil von Essen-Stoppenberg hinaus weitergefahren. Die Rollschuhe waren Mittel zum Zweck geworden, die weitere Umgebung zu erkunden. […]

„eine ganz neue Erfahrung“

[…] Wie vom Himmel hoch, […] war für mich eine einmalige Gelegenheit da, eine ganz neue Erfahrung zu machen. Die Verwaltung der Pfarrei suchte einen Zusteller für die Kirchenzeitung, dass rührte mein Interesse und das fand ich spannend. Da bewarb ich mich um diesen Zustellerdienst, hatte das Glück und bekam von der Pfarrei die Zusage. Der Austragebezirk, von der Nikolauskirche entlang der Gelsenkirchener Straße, am Co-Op Konsum vorbei bis zur Nikolausstraße, ein ganz zentraler Bezirk! Den Leuten etwas zu bringen, ein großer Teil der Kirchenzeitungsleser nahm die Zeitung persönlich in Empfang, machte mir diese Mühe wertvoll und förderte meine Eifrigkeit. In der Vorweihnachtszeit war für mich als Kirchenzeitungszusteller dieser Dienst spürbar einträglicher. Die Kunden bedankten sich besonders und gaben auch mit Ausdruck ihrer Zufriedenheit mir etwas mehr als auf der Rechnung stand. […]

Die Fußballweltmeisterschaft: Bildkarten „schabbeln“ und tauschen

[…] Die Austragung der Fußballweltmeisterschaftsspiele war angekündigt. Das machte sich bei uns auf der Schule gut bemerkbar. Die Schüler kauften Bildkarten im Wundertütenformat, auf denen die beteiligten Fußballspieler abgebildet waren. Eine regelrechte Sammelleidenschaft für diese Bildkarten kam auf. In der Menge der Bilder entstand das Problem, einige Bildkarten doppelt und dreifach zu haben. Es wurden Bildkarten zum Tausch angeboten, aber das ging doch sehr schleppend vor sich, bis der geniale Einfall sich entwickelte: das Schabbelspiel. Wir schabbelten, wann immer sich eine Gelegenheit bot, und in den Schulpausen. Eine windgeschützte Ecke auf dem Schulhof war der richtige Ort. Diesen Platz brauchten die Schabbelspieler und die Spielregeln waren für Neueinsteiger schnell erklärt. In einem kurzen Abstand von ungefähr zweieinhalb Metern zum Schulgebäude warfen alle Mitspieler jeweils drei Fußballkarten an die Hauswand. Der am nächsten mit seiner Karte an die Hauswand kam, war der Erste. Die anderen Spieler folgten in der Reihenfolge, welchen Abstand ihre Karte an der Hauswand hatte. Der erste Spieler hatte die größte Möglichkeit, viele Bildkarten in diesem Spiel zu gewinnen. Der sammelte alle Bildkarten, die auf dem Boden lagen, ein und warf diese hoch in die Luft mit dem Ausruf entweder Bild oder Schrift. Alle Bildkarten fielen wieder zur Erde und hat der Hochwerfer Bild gesagt, gehörten alle Bildkarten, wo man das Bild der Karte auf dem Boden sah, dem Spieler, der hochgeworfen hatte. Die Bildkarten mit dem Schriftteil auf dem Boden hatte der zweite Spieler, der nun an der Reihe war, aufgehoben und warf ebenfalls, wie gerade beschrieben, die Bildkarten hoch in die Luft mit dem Ausruf Bild und alle Bildkarten, die nun auf dem Boden mit dem Bild sichtbar [waren,] hatte er gewonnen. Das Spiel setzte sich in der Reihenfolge weiter fort, bis alle Bildkarten von den Spielern in dieser Spielregel verteilt waren. Mit diesem Spiel wurden die Bildkarten zwar etwas ramponiert, doch der Wert der Abbildung des Fußballspielers und als Schabbelkarte blieb erhalten. […]

GRUGA und Hallo: Ausflüge in die Essener Umgebung

[…] Die Sonn- und Feiertage waren große Ereignistage für uns, denn dann wurde die gute Kleidung angezogen und mit der Straßenbahn fuhren wir in die Essener GRUGA [Große Ruhrländische Gartenbau-Ausstellung] oder nach dem Gelsenkirchener Zoo. An anderen passenden Tagen, bei gutem Wetter, wanderte die ganze Familie zum naheliegenden Halloberg. Das war das nächste von unserem Wohnort zu Fuß erreichbare Waldstück. Der Hallo-Turm, das Zentrum in diesem Miniwald, eine Ruine aus der Kaiserzeit, düster und mit vielen Geschichten um diesen Ort lebendig gehalten, hat auch mich magisch angezogen. Soldaten aus dem letzten Krieg sollen dort Kriegsgerät, Kleidung und persönliche Dinge vergraben haben. So mancher Fund, wie ein Messer oder Kriegsorden, unterstützten diese abenteuerlichen Geschichten. Dort hätte ich auch gerne gesucht und gestöbert, doch das war in Begleitung mit der Familie nicht zu machen. Das Randgebiet dieses Wäldchens am Hallo mit schönen Wiesen und Ackerfeldern war ein Naturerlebnis mit der Weitsicht über Essen-Stoppenberg. […]

„Mein Vater machte ernsthafte Anstrengungen, etwas für uns zu kochen.“

[…] In überraschender Weise wurde uns, meinem Bruder und mir, von unseren Eltern bekanntgegeben, dass meine Mutter am nächsten Tag ins Krankenhaus gehen muss. Sie packte eine Tasche und war am nächsten Morgen nicht mehr da. Uns war nicht klar, was nun geschehen soll. Mein Vater machte ernsthafte Anstrengungen, etwas für uns zu kochen. Da standen plötzlich auf dem Küchentisch ein Sortiment von Konservendosen mit vielversprechendem Inhalt. Die Umstellung der Essenszubereitung war spürbar, aber so, wie wir unser Essen gewohnt waren, war es nicht mehr. Unser Essen wurde immer ein Eintopfgericht mit einer seltsamen Mischung an Zutaten. Über diese Situation wurde nicht gesprochen und plötzlich, für uns unerwartet, kam unsere Oma aus Berlin. So eine Überraschung hätten wir uns nicht gedacht. Die Zubereitung des Essens und andere Arbeiten, die unsere Mutter gemacht hat, wurden von ihr übernommen. Das hat uns im Vergleich zu vorher sehr gefallen. Doch da gab es noch zusätzlich andere Winkel in der Wohnung, die in unserer Omas Sinne nicht in Ordnung waren. So sah ich meine Oma schon kurz, nachdem sie bei uns wohnte, vor dem Toilettenbecken kniend. Sie arbeitete im Klo den angehafteten Wasserstein mit einem Messer ab. Es vergingen noch einige weitere Tage und meine Mutter kam zurück. Dabei hatte sie nicht wie bei ihrem Abschied eine Tasche. Diesmal waren es zwei und sie ließ uns in die eine Tasche hineinsehen. Sie erklärte uns dabei, dass sie uns eine Schwester mitgebracht hat. Mit unserer Schwester wollte ich nichts zu tun haben. In der folgenden Zeit gab meine Mutter immer wieder den Kommentar, da ich unsere Schwester weder sah noch hörte, deine Schwester ist so ruhig und still, sie schläft nur. […]

„… ein Fernsehgerät in unserer Wohnung gab es noch nicht“

[…] In der Zeit, da die Tage immer kürzer wurden und es früh draußen dunkel wurde, haben wir uns zu Hause mit unserem Spielzeug beschäftigt oder in dem gerade geliehenen Buch aus der Leihbücherei gelesen. Dann geschah es, dass unsere Nachbarin uns anbot, mit ihren Kindern Petra und Uwe zusammen einen Kinderfilm im Fernsehen […] anzuschauen. Das mochten wir und wir freuten uns über dieses Angebot, denn ein Fernsehgerät in unserer Wohnung gab es nicht. […]

Es waren die in schwarzweiß gezeigten Fernsehserien im Nachmittagsprogramm. Der Pferdefilm Fury, die Geschichte eines schwarzen Pferdes in Amerika, welches genau verstand, was man von ihm wollte. Viele schöne Bilder von der Landschaft und den wilden Pferden. Spannende Geschichten von den Menschen um dieses Pferd Fury. Die andere Fernsehserie mit dem schottischen Schäferhund Lassie. Aus der Notlage der Familie mit diesem Hund, der dann verkauft werden musste. Lassie hat viele Lebenssituationen und Hindernisse in dieser Fernsehfilmserie überwunden und fand den Weg zurück zur ursprünglichen Familie. […]

Zur Person

Norbert Prusko wird am 15. Juli 1951 im oberschlesischen Mikultschütz (Mikulczyce) im heutigen Polen geboren. Kurz vor seiner Einschulung siedelt seine Familie 1957 nach Möringen bei Stendal in die DDR über. Im Jahr darauf zieht die Familie nach Gelsenkirchen, ehe sie im gleichen Jahr in der Bergbausiedlung am Schacht 6 der Zeche Zollverein in Essen-Stoppenberg sesshaft wird. Von 1958 bis 1966 besucht er die dortige Nikolausschule. Nach dem Abschluss der Volksschule macht er eine Ausbildung zum Nachschneider und ist fast 30 Jahre in der grafischen Industrie tätig. Anschließend macht er sich in diesem Berufsfeld selbstständig und absolviert in diesem Zusammenhang Mitte der 1990er-Jahre verschiedene Weiterbildungen im Multimediabereich. Parallel dazu gestaltet er zwischen 1999 und 2014 sowohl alleine als auch gemeinsam mit anderen Künstlerinnen und Künstlern verschiedene Kunst- und Fotoausstellungen in Münster, Essen und Krefeld. Heute lebt er in Münster. Auf LeMO berichtet Norbert Prusko von seiner Kindheit in der Bergbausiedlung in Essen-Stoppenberg und seiner Schulzeit in den 1950er- und 1960er-Jahren.

Empfohlene Zitierweise:
Prusko, Norbert: Kindheit in der Zechensiedlung, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL:http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/norbert-prusko-kindheit-in-der-zechensiedlung.html
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