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Otto Fuchs: Flucht aus der Kriegsgefangenschaft in Russland

Dieser Beitrag wurde von Otto Fuchs (1924 – 2016) aus Nürnberg in den 1970er Jahren verfasst.

Fred gibt den Anstoß: eines Abends wird kurz entschlossen die Flucht beschlossen, wir ertragen diese Ungewißheit nicht länger. Von der Arbeitsstelle zu fliehen ist, obwohl leicht, nicht möglich, da anständige Kameraden büßen müßten. Also suchen wir vom Wasserturm des Lagers aus das Gelände ab. Es muß gehen, dort am Embach liegt wohl auch ein Kahn. In einer Lagerecke führt ein vergittertes Abflussrohr unter der dreifachen Umzäunung hindurch. Der Postenturm darüber wird erst um 10:30 Uhr besetzt und wenn wir uns schnell in den Graben rollen und das Gitter zerschneiden und der Posten an der anderen Ecke gerade nicht hersieht, dann muss es gelingen und auch das grelle Scheinwerferlicht kann uns nicht stören.

Der Abend der Flucht

Der Abend ist da! Selbst vor dem nächsten Kameraden verbergen wir unsere Vorbereitung. Ein winziger Kompaß und eine grob abgezeichnete Karte ist das einzige, was uns helfen soll. Auch von einem Stützpunkt der Partisanen wissen wir, es muß gelingen!

Es ist dunkel geworden, da liegen wir bereit und nach einem tiefen Atemzug rollen wir in den Graben. Im Kopf dröhnt es, eine ungeheure Spannung ist in mir. Wird er schießen? Hat er uns gesehen? Nichts geschieht. Mit fliegender Hast wird das Gitter durchzwickt, im übelduftenden Schlamm, den Rucksack nachziehend, quäle ich mich durch die enge Röhre. Und auch der Ausgang ist vergittert! Zu allem Unglück liegt davor ein kleiner Holzsteg, der den Graben überbrückt. Mit Kräften der Verzweiflung lässt er sich soweit verschieben, daß gerade ein Körper die Enge durchzwängen kann. Das Herz pocht bis zum Halse, ein grimmiger Humor schießt mir plötzlich durch den Sinn, da ich mir das Bild vorstelle, wie man sich in diesem üblen Schlamm doch so klein machen kann und wie man wohl später einmal über diese Partie denken wird.

Nun kommt ein leichter Schilfbestand, der ein Fortbewegen auf Händen und Knien gestattet. Es ist ein Sich-Schleppen! Zerfetzt ist die morsche Uniform – aber nur weiter, weiter! Wir rollen über einen niederen Damm und können jetzt aufrecht gehen. Wie oft blicken wir zurück auf die Lichterfülle des Lagers und lauschen. Ruhig liegt es dort und noch blieb unsere Flucht unentdeckt. Über sumpfige Wiesen laufen wir zum Embach, den leichter Dunst vor uns anzeigt. Immer weiter bleiben die Scheinwerfer des Lagers zurück, es ist so eigenartig, die vielen Kameraden dort zu wissen und auch meine verlassene Schlafstelle sehe ich… Aber da ist der Fluß! Ein Kahn muss nun her! Da, plötzlich sehen wir einen Schatten! Wir stehen bis zur Brust im Wasser, dicht an die Böschung gedrückt und lassen den Soldaten vorbeigehen, der sich gegen den Nachthimmel abhebt. Zum Äußersten sind wir entschlossen, doch wir bleiben unentdeckt, er geht vorbei. Schneller werden unsere Schritte, wir müssen einen Kahn finden. Da liegt ein dunkler Schatten im Wasser - ein Boot! Mit den Händen paddeln wir, die Strömung treibt uns ab und es ist, als blieben wir auf einer Stelle. Aber plötzlich ist das andere Ufer da und kommt schnell auf uns zu. Mit einem Tritt wird das Boot in die Strömung gestoßen; noch ein Blick zum Lager, das weit dort in der Nacht liegt und wir wenden uns ab.

Glück und Enttäuschungen

Ein paar Schritte nur, da stehen wir wieder an einem Ufer. Es scheint ein Altwasser zu sein, das uns den Weg sperrt. Dort sind die schwarzen Umrisse eines Hauses, dort muß auch ein Kahn sein. Vorsichtig schleichen wir uns heran und wirklich liegt am Steg ein Kahn. Das Riesenglück spüren wir erst später, daß sich mit der Kette leicht der Pfahl herausziehen ließ, daß kein Hund Lärm schlug, ja daß überhaupt ein Boot da war.

Leise gleiten wir über die ruhige Fläche und greifen drüben mit weitem Schritt aus. Wie Äpfel schmecken die Kartoffel, die wir aus einem Acker ziehen, zum ersten Male eigentlich lockert sich etwas die verkrampfte Spannung. Es tagt schon, da verkriechen wir uns in ein Gebüsch. Wie horche ich erschrocken auf, als da plötzlich unweit eine Dampfsirene heult. Da, wieder, jetzt hat es auch Fred gehört: es ist der Dampfer, der morgens bei unserer Arbeitsstelle anlegt und wir sind also im Kreise gelaufen. Jetzt ist Unruhe in uns und als da noch ein Ästeknacken beginnt, sehen wir uns schon entdeckt. Gespannt liegen wir und… es sind Kühe! Dort sind auch Kinder, die aber draußen auf dem Wege bleiben. Verwundert (trotzdem) glotzen uns die Tiere an, ehe sie mit ihrem "Muh" weitertrotten.

Erst später erzählte Natascha, welche Aufregung im Lager war, als bald noch in der Nacht unsere Flucht entdeckt wurde. Der Wachposten, der in dieser Nacht etwas früher auf seinem Turm zog, sah die verschobene Brücke und schlug Alarm. Die gesamte Lagermannschaft wurde gründlich gezählt, bis man unser Fehlen feststellte.

Mit Spürhunden zogen jetzt die Russen hinaus in die Nacht und noch lange Tage und Nächte wurde gesucht. 1949 erzählen mir dies alles Kameraden, die im Lager waren und auch, daß es Strafen gab für die Lagerführung, die es wahrscheinlich verdiente.

Erst im Dunkel wagen wir uns aus dem Versteck. Jetzt muß der winzige Kompaß helfen, die Straße und das einsame Haus zu finden. Gegen Morgen müssen wir es erreichen, wir haben uns die Karte eingeprägt.

Die Nacht ist klar und oft müssen wir an den Boden gepreßt verharren, bis ein spätes Fahrzeug vorbei ist. Querfeldein, nur vom Kompaß geführt, ziehen wir durch die Nacht. Eine Häusergruppe taucht auf! Da alles ruhig bleibt, wagen wir uns heran und lange sitzen wir in den Johannisbeersträuchern. Fred entdeckt einen Topf gestampfter Kartoffel, der wohl für die Schweine gedacht ist. Ein Reichtum für uns! Wir sind kühn geworden und pochen an die verschlossenen Fensterläden. Da fährt uns ein Schreck in die Glieder: ein schrilles Kreischen aus wie vielen Kehlen gellt uns in die Ohren; erst sind wir starr, dann wird uns klar, daß so diese einsamen Leute Hilfe herbeirufen wollen, raffen den Kartoffeltopf auf und laufen, so schnell wir nur können. Erst als wir keuchend der Wald erreichen, machen wir Halt, füllen unser Kochgeschirr und greifen noch einmal in den köstlichen Brei. Noch hören wir ferne das Schreien, da Wandern wir weiter.

Ein verlassener Obstgarten hält uns auf und endlich dann stoßen wir aufatmend auf die gesuchte Straße, in ihrem Graben schleichen wir weiter, müssen manchesmal verschwinden, bis die Gefahr vorüber ist. Tatsächlich auch finden wir das Haus, welches allein und abseits am Walde steht. Die Beschreibung paßt genau.

Eine große Enttäuschung erleben wir hier, wo wir Kleidung, Karten, Kompaß und Lebensmittel erhalten sollten: Vor kurzer Zeit erst wurde dieses Nest aufgedeckt, die Männer sind geflohen und voll Angst sagt uns dies eine zurückgebliebene Frau. Etwas Brot und Speck gibt sie uns und wir müssen weiter, eine Hoffnung ist zerstört. Weit kommen wir nicht. Wir sind etwas mutlos geworden und in einem Dickicht bauen wir uns mit Zweigen einen Unterschlupf, weil es leise zu regnen begann. Die graue Stimmung versinkt im Schlaf.

Ein brennender Durst quält uns, der Speck war zu gesalzen und nach einem Blick auf den Kompaß geht unser Marsch weiter durch den Wald, der immer wilder wird. Jubelnd begrüßen wir einen Bach und liegen sofort flach auf der Erde, um den Durst zu löschen. Wir verfolgen den Wasserlauf weiter, da er ungefähr unserer Richtung hält und weil der Wald schon zum Urwald geworden ist. Jetzt dunkelt es, eine tiefe Verlassenheit senkt sich mit der Nacht auf uns, ein fahler Mond spendet uns Licht und wir stolpern weiter.

Da ist ein Ende, der Bach mündet in ein unbewegliches Wasser, das schwarz und unheimlich vor uns liegt. Eine wunderbare Fügung läßt hier einen Kahn liegen, wir können es kaum glauben! Halb verfault ist das Boot und wir müssen eilen, das andere Ufer zu erreichen. Inmitten des Wassers halten wir überwältigt inne: Wie ein schwarzes Band zieht es sich durch den stillen, dichten Wald, eine schmale Straße des Himmels mit seinen Sternen ist zu sehen und spiegelt sich im regungslosen Spiegel des Wassers. Die Stille wird durch ein leises Gurgeln unterbrochen… Da erwachen wir aus diesem einmaligen Erlebnis und paddeln weiter. Drüben sinkt uns der Kahn unter den Füßen ab!

Wir können uns kaum trennen von diesem Bild, ich werde es nie vergessen!

Zur Person

Otto Ferdinand Fuchs wird am 9. September 1924 in Nürnberg geboren. Nach seinem vorgezogenen Abitur geht Otto Fuchs zum Panzerregiment Großdeutschland. In der Gegend von Memel erleidet er 1944 eine Kriegsverwundung und wird im Lazarett in Fürth/Bay behandelt. Bei Kriegsende ist er an den Kämpfen um Berlin beteiligt und wird dort Kriegsgefangener der russischen Armee. Nach seiner Freilassung und der Rückkehr nach Nürnberg beginnt er ein Praktikum bei der „MAN - Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg“ und bleibt dort bis zu seiner Rente in der Werbeabteilung. Im Jahr 1953 heiratet er Elli Götz, 1961 wird ihr Sohn geboren. Fast sein ganzes Leben ist Otto Fuchs künstlerisch tätig, am liebsten schnitzt er Figuren aus Holz. In Nürnberg Buchenbühl hat er sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche mit Holzskulpturen ausgestattet. Otto Ferdinand Fuchs stirbt am 25. Januar 2016.

Empfohlene Zitierweise:
Fuchs, Otto: Flucht aus der Kriegsgefangenschaft in Russland, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/otto-fuchs-flucht-aus-der-kriegsgefangenschaft-in-russland.html
Zuletzt besucht am: 23.04.2024

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