Zeitzeuge > Nachkriegsjahre

Otto Fuchs: Flucht in Richtung Westen

Dieser Beitrag wurde von Otto Fuchs (1924 – 2016) aus Nürnberg in den 1970er Jahren verfasst.

Getarnt mitten in Riga

Jetzt marschieren wir auf der Straße zur Bahn. Weit vor uns die beiden Mädels, die uns den Weg genau beschrieben haben. Es ist Nacht! Wie wir auf dem hellerleuchteten Bahnsteig stehen, klopft mir das Herz bis zum Halse. Es darf uns niemand ansprechen! Wenn die Reisenden um uns ahnen würden!!! Wir betrachten uns die Leute und keiner scheint uns gefährlich zu sein, auch nicht der Offizier dort. Fauchend fährt der Zug ein! Die Mädels drängen voraus und wir verlieren sie nicht aus den Augen. Erst als wir nebeneinander sitzen, treffen sich unsere Blicke. Wir beide lehnen uns in die Ecke und täuschen tiefen Schlaf vor, unser guter Anzug sichert uns vor Belästigung durch die Bahnpolizei, die nur unter den Bänken und oben in den Netzen nach blinden Passagieren sucht. Die Spannung verliert sich keinen Augenblick und ganz eigenartig ist es uns, da wir durch den Wald fahren.

Da kommt Riga! Am Stadtrand liegt ein Gefangenenlager, an dem wir mit gemischt komischen Gefühlen vorbeifahren. Auch am Bahnhof arbeiten Gefangene und wir meinen, sie müßten in unseren Augen lesen können. Mit frecher Sicherheit ziehen uns die Mädels aus dem Bahnhof auf die belebte Straße. Wir sind auch schon fast übermütig geworden und grinsen dem russischen Offizier ins Gesicht. Doch, als wir mit in das große Restaurant kommen sollen, haben wir doch sehr Bedenken. Es hilft nichts! Bald sitzen wir um einen Tisch, mit Schrecken denke ich an meine kurzen Haarstoppel und sehe um uns die Vielzahl der Gäste. Den Ober fertigt Natascha auf Russisch ab, wobei wir zu der vorgeschlagenen Speise nur begeistert: „Da, da!“ sagen können. Es ist der Gipfel an Frechheit und so eng uns der Kragen auch ist, wir lassen es uns schmecken! Die Unterhaltung am Tisch führen die Damen, wir verstehen kein Wort. Eine Flasche Benediktiner endet das Mahl und wie wir das Lokal verlassen, setze ich die Mütze recht unverschämt aufs Ohr.

Unbedingt wollen Natascha und Silva ein Bild als Andenken und so schleppen sie uns zu einem Straßenphotographen. Oh Schreck, ein Jude! Der spannte auch etwas, denn es war ja zu komisch, daß die Mädels, die hinter uns standen, nach seinen Angaben erst uns in die richtige Stellung setzen mußten. Es wurde uns recht heiß und schnell machten wir uns davon. Als Natascha dann die Bilder brachte, mußten wir über die eleganten Boys lachen.

[…]

Weiterreise über die Grenze ins ehemalige Ostpreußen

Am anderen Tag stehen wir wieder auf dem Bahnsteig und zwängen und bei einem Wolkenbruch in einen überfüllten Zug. Heikle Situationen sind zu bestehen, da wir angesprochen werden, aber alles geht gut. Wir haben uns die Orte gut eingeprägt, die an unserer Strecke liegen und merken, daß wir zu weit gefahren sind.

Nun sitzen wir in einem kleinen litauischen Bahnhof und freunden uns mit dem Mädel an, das den Betrieb hier aufrecht hält. Bald sind auch junge Männer da und wissen uns viel von ihrem Kampf zu erzählen.

Mit einem Güterzug fahren wir zurück und mit Glück und einer Frau schaffen wir auch das dort so komplizierte Umsteigen. Wie es Tag wird, sind wir in Tauroggen und müssen aussteigen, da kein Zug über die Grenze fährt. Unsere Fahrkarte ist hier auch zu Ende. So marschieren wir mit unserem Gepäck zur Stadt und haben wieder Glück. Ich spreche ein Mädel an und bald sind wir uns einig, daß wir in ihrem Elternhaus unterkommen können. Aber erst am Abend ist ihr Dienst zu Ende. Inzwischen gehen wir in die Kirche und können kommunizieren. Der Geistliche ist so entgegenkommend, daß wir ihn hernach im Pfarrhause aufsuchen und um Landkarten bitten. Ohne Erfolg müssen wir wieder gehen.

Am Abend sitzen wir in einer winzigen Stube. Der Vater ist betrunken, die Mutter betet fortwährend, die Tochter kleidet sich um zu einem Vergnügen. Und alle finden wir in der Nacht Platz, sogar eine Unzahl Flöhe. Da uns eine Freundin des Hauses einlädt, zu ihr zu kommen, sind wir gerne bereit. Die ist im Kino beschäftigt und nimmt uns mit. Bald sitzen wir unter einer johlenden, fluchenden und spuckenden Menge und sehen auf der Leinwand, wie deutsche Soldaten gekämpft haben sollen. Wir schreien auch, es versteht doch niemand.

In sauberen Betten haben wir diese Nacht geschlafen und rollen jetzt im Zug über die Grenze, über die Memel. Eigenartigerweise fährt ein Verbindungszug über die Grenze, ohne daß Karten dafür ausgegeben werden. In Tilsit besorgt unser Schutzengel Karten bis Königsberg und nach herzlichem Abschied fahren wir allein weiter. In Insterburg müssen wir umsteigen. Um nachts 2 Uhr geht es weiter. Alle Sperren und Kontrollen umgehend, verschwinden wir in einem verlassenen Pavillon und schlafen. […]

Es kostet einen schweren Kampf, in den Zug zu kommen und erst in der letzten Minute können wir noch aufspringen. Beim Tagwerden rollen wir durch das einst so fruchtbare Ostpreußen. Heute liegt es verwüstet! Bahnwärterhäuschen sehen wie verwunschene umrankte Schlösser aus. Unberührt inmitten wuchernden Unkrauts liegen die ehemals so reichen Höfe.

Durchschlagen mit estnischen Pässen

Das Bild Königsbergs, „Kaliningrad“, ist so verändert, daß ich mich kaum zurechtfinde. Eine deutsche Frau, die Kohlen sucht, weist uns den Weg ins Katharinen-Krankenhaus, wo noch Ordensschwestern sind.

In einem kleinen abgelegenen Raum der Röntgenstation sitzen wir und berichten. Die Schwester richtet eine Suppe. Der Kaplan hört interessiert zu. Auch der deutsche Arzt und der Ingenieur sind da und beraten wie wir weiterkommen. Hier müssen wir noch heute fort, um den Schwestern keine Schwierigkeiten zu bereiten. Im Dunkeln gehen wir… doch nur um die Ecke und verschwinden in den Gängen und Zimmern des Luftschutzkellers.

Ausgeschlafen haben wir und marschieren nun auf der Landstraße nach Pillau. In Groß-Heidekrug sollen Fischer sein, die uns übers Haff bringen. Die Wälder sind voll russischer Soldaten, die dort ihre Lager haben. Eine Strecke des Wegs müssen wir mit einer Anzahl Offizieren gehen und ertragen Qualen. Ein Posten läßt uns wunderbarerweise ungeschoren. Wir schwitzen Blut!

Eine Fischerfamilie finden wir. Dort geben wir uns als estnische Ärzte aus, wie unsere Ausweise ja sagen und wollen Fische für das Krankenhaus kaufen. Erst nachdem wir sicher sind, offenbare ich der Fischersfrau unser Anliegen. Am Abend kommt der Fischer vom Fang zurück. Er muß ablehnen, es ist ihm unmöglich, uns überzusetzen. Also müssen wir es selbst versuchen. Der Junge des Fischers hat Ruder versteckt, ein Boot müssen wir uns am Landungssteg klauen, wenn der Posten dort einmal seinen Platz verlässt.

In der Nacht schleichen wir los, es gelingt, schon rudern wir im stillen Wasser des Seeschifffahrtkanals. Als wir auf das freie Haff kommen, wogen uns die Wellen tüchtig hin und her. Nun sind wir froh, daß das Boot so groß und schwer ist und rudern und rudern, immer nach den Sternen schauend. Immer toller wird die See, nun beginnt es zu stürmen und zu regnen, wir stecken im schönsten Gewitter. Da – Freds Ruder ist gebrochen! Unmöglich kommen wir weiter, der Sturm treibt uns ab und schon sind wir auf eine Insel des Kanals geworfen. Alle Mühe ist vergebens, wir kriegen das Boot nicht flott! Erst da wir ins Wasser steigen und mit den Ruderstangen arbeiten, gelingt es. Nur in der Unterhose, bis zur Brust im Wasser ziehe ich das Boot am Strick und Fred hält es von den Klippen fern. Es dämmert, am Horizont sehen wir die Segel der heimkehrenden Fischer und wir müssen ans Festland, ehe es ganz hell ist. Selten arbeite ich so schwer, dabei wirft der Sturm immer wildere Wellen gegen das Ufer. Aber wir schaffen es. Wie eine Erlösung ist das ruhige Wasser des Kanals und bald liegen wir erschöpft im dichten Schilf des festen Ufers.

Mit einem Lastwagen sind wir zurück in die Stadt gewahren, ungewiß, wohin wir uns wenden sollen. Und wieder treffen wir zwei deutsche Frauen, die abgemagert und zerlumpt von der Arbeit kommen. Sie wollen uns aufnehmen.

Wir werden angehalten! Nur die vielen Stempel unseres estnischen Ausweises scheinen überzeugt zu haben, lesen kanne der Miliz-Soldat die estnische Schrift doch nicht. Wir atmen auf!

[…] Nun arbeiten wir in einer „Autofabrik“ und bauen aus 10 alten Autos 1 neues. Die Unterschrift des Milizoffiziers, der unsere Person bestätigen sollte, haben wir gefälscht, die wichtigste Instanz auf der Kommandantur, eine rassige Russin, konnte dem Betörer Fred nicht widerstehen und so halten wir unsere Pässe in Händen: „Otto Seidl“ steht da bei mir und viele Unterschriften und Stempel.

Von der Firma erhalten wir einen Raum, den wir uns gemütlich ausbauen. Bald können wir uns nicht mehr vor Damenbesuchen retten, weil es wohl im ganzen zertrümmerten Königsberg nicht einen so behaglichen Aufenthalt gibt. Dabei ist alles nur imitiert! Jeden Morgen sehen wir gegenüber im Kriegsgefangenenlager die Kameraden antreten und zur Arbeit ziehen. Ein komisches Gefühl für uns!

Gastfreundschaft und Häuslichkeit in Kaliningrad

Inzwischen ist es November geworden, einmal lagen wir beide halb vergiftet, weil wir zu viel Eicheln gegessen hatten. Der Hunger ist auch furchtbar und von den Deutschen um uns verhungern immer mehr. Mein Magen hat sich wieder gemeldet, mit viel Glück wurde ich im Katharinen-Krankenhaus aufgenommen, das nun auch unter russischer Leitung steht. Die Sympathie einer jungen russischen Ärztin ermöglichte mir einen langen Aufenthalt und jetzt bin ich hier angestellt, als Mädchen für alles. Oft noch unterhalte ich mich mit Genina.

Noch heute ist es mir wie ein Wunder, daß es eine solche Frau gibt! Schwester Oberin, Maria Alberta! Sie ist mir Mutter geworden und ich habe schmerzende Tränen geweint. Eine hohe Frau!

Das Weihnachtsfest ist vorbei, es wurde ein unvergeßliches Erlebnis bei Schwester Edith im Kindergarten. Beim Weihnachtsspiel hatte man mir eine Decke umgelegt und ich mußte den hl. Joseph spielen, eine junge Novizin spielte meine Maria.

Auch ein Zimmer habe ich jetzt. Es war wohl früher der Hühnerstall des Herrn Pfarrers und liegt im Keller, aber ich kann es allein bewohnen und Schwester Hildegard hat den Schlüssel und sorgt auch, daß es immer nett dort ist. Manche gemütliche Kaffeestunde, sogar manchmal mit Margarinebrot, halten wir hier unten. Daß wir nun zwei Zimmer haben, kann nur günstig sein und Fred wird ganz im Stillen auch mit verpflegt.

In der Silversternacht stehen wir oben auf dem Turm der Kirche und läuten mit allen Glocken das Neue Jahr ein. Auch der Herr Pfarrer und Kaplan hängen an einem Glockenseil. Dann klingt ein Lied über die ausgestorbene Stadt und wortlos steigen wir die vielen Stufen herab.

Mit Holzmachen hatten wir angefangen, uns nebenher etwas zu verdienen. Dann versuchten wir es einige Nächte mit Pferdestehlen und das wäre fast schief gegangen. Jetzt räumen wir in dunklen Nächten aus einem Keller, in dem wir ein Lager entdeckten, Geschirr aller Art. Oft ist die Geschichte gefährlich und das Zeug klirrt so entsetzlich. Aber dann, wenn wir es auf dem Markt in Rubel umgesetzt haben, ist alle Gefahr vergessen.

Zur Person

Otto Ferdinand Fuchs wird am 9. September 1924 in Nürnberg geboren. Nach seinem vorgezogenen Abitur geht Otto Fuchs zum Panzerregiment Großdeutschland. In der Gegend von Memel erleidet er 1944 eine Kriegsverwundung und wird im Lazarett in Fürth/Bay behandelt. Bei Kriegsende ist er an den Kämpfen um Berlin beteiligt und wird dort Kriegsgefangener der russischen Armee. Nach seiner Freilassung und der Rückkehr nach Nürnberg beginnt er ein Praktikum bei der „MAN - Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg“ und bleibt dort bis zu seiner Rente in der Werbeabteilung. Im Jahr 1953 heiratet er Elli Götz, 1961 wird ihr Sohn geboren. Fast sein ganzes Leben ist Otto Fuchs künstlerisch tätig, am liebsten schnitzt er Figuren aus Holz. In Nürnberg Buchenbühl hat er sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche mit Holzskulpturen ausgestattet. Otto Ferdinand Fuchs stirbt am 25. Januar 2016.

Empfohlene Zitierweise:
Fuchs, Otto: Flucht in Richtung Westen, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen//lemo/zeitzeugen/otto-fuchs-weiterreise-in-richtung-westen.html
Zuletzt besucht am: 25.04.2024

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