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Otto Fuchs: Zu Fuß auf der Flucht durch Lettland

Dieser Beitrag wurde von Otto Fuchs (1924 – 2016) aus Nürnberg in den 1970er Jahren verfasst.

Freundliche Begegnungen

[…] Es ist noch ein weiter Weg, da lichtet sich der Wald und dort liegt ein Gehöft. Wir möchten darauf zueilen und rufen und Menschen sehen. Aber es heißt vernünftig zu sein. Wie warten die Dämmerung ab, um bei Gefahr die Nacht vor uns zu haben und in ihr untertauchen zu können, dann gehen wir vorsichtig auf das Haus zu. Es liegt wie verlassen da, auch auf unser Pochen erfolgt keine Antwort. Endlich schlurfen Schritte, die Türe öffnet sich ächzend und wir sehen ein Wesen, das nur bei genauem Hinsehen als Frau angesprochen werden kann. Verklebte Haare über einem kaum menschlichen Gesicht, alles andere schmutzige Lumpen. Ich folge ihr in den dunklen Raum, während Fred die Türe sichert, und versuche ihr, unseren Hunger klar zu machen. Ständig gibt sie Laute von sich, die schier unheimlich wirken und umständlich versucht sie, so etwas wie Schuhe anzuziehen. Um es schneller zu machen, binde ich ihr die Dinger an die Füße, aber auch nun kein Zeichen, dass sie verstanden hat. Aus einer dunklen Ecke kriecht da ein Knäuel und entpuppt sich als Kind. Plötzlich warnt Fred! Schnell bin ich an der Tür und sehe gerade noch bei einer abgelegenen Scheune einen Reiter verschwinden. Nun ist es Zeit für uns zu verschwinden.

Nicht allzu weit sind wir gelaufen, da lockt uns ein Licht an. Schon macht der Hund Lärm, nun müssen wir uns auf unser Glück verlassen und wir haben Glück. Es sind alte Leute, die sofort unsere Geschichte wissen und zu essen und zu trinken bringen. Es kostet Beherrschung, nicht wie ein wildes Tier über die Speisen herzufallen. Als wir sagen, aus welcher Richtung wir kommen, schütteln sie ungläubig den Kopf.

[…] Wir spüren die Herzlichkeit, mit der sie uns Glück auf den Weg wünschen. Ein kleines Päckchen drücken sie uns noch in die Hand, dann sind wir wieder in der Nacht und niemand darf von uns wissen, einsam in dieser fremden Welt, deren Sprache wir nicht einmal kennen.

Fred klagt über Unwohlsein, bald schüttelt ihn ein Fieber. Noch in der Nacht suchen wir eine abgelegene Feldscheune und finden auch etwas altes Stroh darin. Mit unserem ganzen Besitz wird Fred zugedeckt und aus Nataschas kleiner Reiseapotheke muß er Tabletten schlucken. Draußen ist die Sonne schon hochgekommen und ganz vorsichtig wagen wir uns in ihre Wärme.

Über Bäumen ist ein Dach zu sehen und dorthin schleiche ich im Abenddämmern. Lange beobachte ich das Haus und seine Bewohner und weil weit und breit kein Nachbargehöft zu sehen ist, wage ich es und gehe auf den Hof. Die Leute starren mich an und rühren sich noch nicht, als ich der alten Frau die Axt aus der Hand nehme und ihre unterbrochene Arbeit, das Holzhacken, fortsetze. Endlich sprechen sie, zutraulich kommt auch ein Kind und bald scherze ich mit ihm. Jetzt verstehen die Leute auch und bringen Brot, Rüben und Kartoffeln und ins Kochgeschirr geben sie Milch.

So reich beladen kehre ich zurück und bald hängt der Topf über einem kleinen, vorsichtig abgedeckten Feuer und es wird fast gemütlich. Fred ist es besser, die heiße Milch tut ihm gut.

Noch einen Tag bleiben wir und als wir am Abend weiterziehen, ist es uns, als würden wir unser Haus verlassen. Es ist noch nicht dunkel und wir müssen gut beobachten. Der Fuhrweg paßt in unsere Richtung und wir folgen ihm. In einem Häuschen, das an einer Waldwiese liegt, scheint nur eine Frau zu wohnen und wir lassen uns sehen. Sie verliert bald ihre Scheu, in gebrochenem Deutsch erzählt sie uns, während sie Brot und Milch bereitet, daß sie ganz allein hier haust und Tränen stehen in ihren Augen, weil von ihrem Sohn jede Nachricht fehlt. Wieder ist es eine Frau, eine Mutter, die hilft. Wir greifen uns zwei Rechen und im sinkenden Tageslicht häufen wir das Heu zusammen und hurtig ist die Arbeit getan. Gerne wären wir noch geblieben. Doch ist uns die Unruhe im Blut und weit, unendlich weit ist der Weg noch, der uns von der Heimat trennt.

[…] Es ist noch ein langer Marsch geworden, heiß und voll Hunger, die Kraft läßt immer mehr nach und an den Weiterweg dürfen wir gar nicht denken. […] Nach dieser trostlosen Einöde sind wir endlich auf ein Haus gestoßen. Es war eine halbverfallene Hütte, deren Bewohner selbst kaum zu essen hatten und wir müssen ebenso hungrig weiterziehen. In einem Bachgrund fanden wir einen Heuschober, über den ein Dach gedeckt war und dort nisteten wir uns ein, um erschöpft zu schlafen. […] Es dunkelt schon. Da treffen wir auf ein Mädel, das Kühe hütet. Es will fliehen und nur unseren heftigen Zeichen gelingt es, uns verständlich zu machen. Der angegebenen Richtung folgen wir und finden auch bald das Haus. Nichts rührt sich dort, erst nach Warten und Suchen entdecken wir im Garten zwei Frauen, die nicht wenig erstaunt sind über unser Erscheinen. Unsere Uniform ist ja auch kein Staatskleid mehr! Es gesellt sich noch ein Mädel dazu und siehe, die Frauen sprechen Deutsch. Wie ein Geschenk nehmen wir diese Unterhaltung, nach der jüngsten Vergangenheit ist es doch die erste Verbindung mit der Welt. Und welches Glück, ich kann einen Brief an Natascha schreiben, die Mädels wollen ihn besorgen. Auch der Weiterweg wird uns beschrieben und bei einem Verwandten der Familie soll Treffpunkt sein mit Natascha.

[…]

Die Gefahr ist nicht vorüber

Einmal finden wir beim Hellerwerden nicht rechtzeitig Unterschlupf und müssen noch über freies Feld. In möglichster Unbefangenheit ziehen wir dahin, unauffällig das Haus zur Linken beobachtend. Man hat uns schon gesehen. Fieberhaft erwarten wir den Wald und dürfen doch keinen Schritt schneller gehen. Da – jetzt alarmiert der Mann und springt ins Haus, da sausen wir auch schon auf den Wald zu, keuchen weiter, durch Unterholz und sumpfiges Gestrüpp. Lange hetzen wir so, bis wir in einem Walde unterschlüpfen. Gelbe Pfiffer haben wir gefunden und auf einem Feld Kartoffeln und Rüben. Auch eine Speckschwarte haben wir noch und dies kocht jetzt über einem kleinen Feuer. Der Wald ist klein, ringsum hebt ein Rufen an, das Vieh wird auf die Weide getrieben, Kinder und Hunde machen einen recht beunruhigenden Lärm. Später erfahren wir dann, daß manche Bauern zu einer Organisation gehören und Waffen haben, also taten wir wohl gut, heute ausgerissen zu sein.

An einem Morgen sperrt ein Fluß unseren Marsch, nach unserer Karte muß auch eine Brücke in der Nähe sein und wirklich finden wir sie. Lange beobachten wir und können keine Brückenwache entdecken. Also schnell hinüber, ehe es ganz hell wird. Es geht gut und weil es nach unseren Urwaldpfaden ein wundersames Gefühl ist, auf einer Straße zu gehen, bleiben wir weiter darauf. Es ist zum Singen, so schön lässt es sich marschieren – da tauchen zwei Gestalten auf und wir wissen, es sind russische Soldaten. Heiß ist es mir geworden und als wir recht in einen Weg einbiegen, pfeifen die beiden. Jetzt ist es verraten, wir laufen los, ein weicher Acker hemmt den Lauf, da pfeifen die ersten Kugeln über uns. Immer wieder drückt mich der Rucksack zu Boden, die Kerle haben Maschinenpistolen und jagen unser Leben! Will denn der Wald dort nicht näher kommen? Noch einmal raffe ich mich auf und falle in das Gebüsch! Ich will liegen bleiben, aber wir müssen weiter. Ein Schreck durchjagt mich: Es ist nur ein schmaler Waldstreifen, der kein Versteck bietet! Vor uns, 200 Meter freies Feld, dann eine dichte Baumhecke, die eine Bahnlinie säumt. Weiter, weiter! Es bleibt ruhig, da wir die Blöße überspringen und nun ist es aus, über die Gleise ist nicht zu kommen, denn rechts und links an dieser schnurgeraden Linie sehen wir Bahnwärterhäuschen und Leute. Ein glücklicher Einfall: Wir klettern in der Hecke hoch, sie ist so verfilzt, daß es Mühe kostet, durchzukommen. Immer wieder hat man sie gestutzt und die Zweige liegen seit Jahren hier oben. Wir liegen sicher hier oben nachdem unser Einschlupfloch wieder verstopft ist und warten nun mit Spannung, was geschehen wird. Der Tag bleibt ruhig, nur einmal beunruhigt uns ein eigenartiges Geräusch, das sich bald aufklärt: Zu unseren Füßen weiden Kühe! Wir verstehen jetzt, warum keine Verfolgung einsetzte. Es wird die Brückenwache gewesen sein, die auf uns schoß und deshalb, weil sie nicht auf ihrem Posten war, keinen Alarm gab. Zu unserem Glück, denn eine Verfolgung mit Hunden wäre unser Ende gewesen und das Ende einer Flucht in Rußland ist meist klar.

Großes Glück und rettende Hilfe

Erst in der Dunkelheit wagen wir uns über den Schienenstrang und marschieren weiter durch die Nacht. Bald wird uns klar, daß wir unmöglich zur rechten Zeit am Treffpunkt sein können und wieder hilft unser Glück. Wir kommen auf einen Hof, eine Frau, ihr Junge und ihr Mädel leben darauf, der Vater ist wahrscheinlich im Wald als Partisan. Der Junge will die Botschaft an Natascha besorgen und wir sollen solange bleiben, bis Natascha kommt. Unweit des Gehöftes bauen wir uns nun eine massive Hütte aus Tannenzweigen und nachdem wir kräftig gearbeitet haben, ist das Häuschen auch regendicht und aus nächster Nähe nicht mehr zu erkennen. Am Abend untersuchen wir die nächste Umgebung und wie wir dann unter die Decken kriechen, die uns die Bäuerin gab, fühlen wir uns recht wohl und zudem auch satt.

Wir haben uns ordentlich gewaschen, ich bändige meine kurzen Haare, die noch borstig in die Höhe stehen und sind im Übrigen so vergnügt, wie die Sonne, die auf uns herablacht. Da höre ich undeutlich rufen, immer wieder und bald ist „Otto“ zu verstehen. Nun haste ich durch das Unterholz, sehe auch bald einen lichten Schein und bin bald bei Natascha. Ich kann kein Wort hervorbringen, aber sie überbrückt mit einer herzlichen Natürlichkeit. Nun sitzen wir vor unserem Häuschen und unterhalten uns. Was weiß Natascha alles zu erzählen, da sie doch auch nach unserer Flucht noch Verbindung mit dem Lager hatte. In größter Sorge war sie um uns und als mein Brief sie erreichte, da eilte sie sofort los zum Treffpunkt. Enttäuscht fuhr sie wieder heim, um jetzt wiederum zu kommen. Bahnfahrt und langen Fußmarsch hat sie hinter sich und ist jetzt voll Temperament. Es hebt ein Festmahl an, eine Flasche Sekt krönt diesen Tag. Für uns ist alles ein Wunder. […]

Natascha ist wieder heimgefahren, unsere Tage sind faul und satt und wir haben Zeit, nach Hause zu schreiben. Den Brief will Natascha auf wundersame Weise befördern.

Eine große Überraschung erleben wir: Natascha kommt zurück und mit ihr Silva, die Fred aus einem früheren Lager kennt. Immer wieder staunen wir ungläubig die eleganten Mädels an und sind ihnen dankbar, mit welcher Natürlichkeit sie unsere eigenartige Lage nehmen. Nun wird Maß genommen und wir lachen bei dem Gedanken, daß uns inmitten der Wildnis von netten Mädels ein Anzug angepaßt wird.

Einige Tage sind die beiden wieder fort, wir sind in die Scheune auf dem Hofe umgezogen und haben um uns volle Schüsseln stehen. Ab und zu kommt netter Besuch von benachbarten Höfen und immer werden volle Taschen geleert. Nur nachts können wir uns etwas die Beine vertreten, es ist eine rechte Mastkur. […]

Die Mädels kommen! Koffer und Taschen schleppen sie! Früher sind sie diesmal da, denn ein russischer Soldat nahm sie auf seinen Wagen mit. Wenn der gewußt hätte? Nun packen sie aus und uns gehen die Augen über. Bald sind wir eingekleidet, von den Schuhen über Wäsche und Anzug bis zu Mütze. Auch Koffer und Taschen, gefüllt mit Konserven, Speck und notwendigen Sachen, fehlen nicht. Wir können es nicht fassen! Geld und ein notdürftiger Ausweis mit vielen Stempeln stecken in der Tasche und alles das von Frauen, die uns doch nie mehr wiedersehen!

Zur Person

Otto Ferdinand Fuchs wird am 9. September 1924 in Nürnberg geboren. Nach seinem vorgezogenen Abitur geht Otto Fuchs zum Panzerregiment Großdeutschland. In der Gegend von Memel erleidet er 1944 eine Kriegsverwundung und wird im Lazarett in Fürth/Bay behandelt. Bei Kriegsende ist er an den Kämpfen um Berlin beteiligt und wird dort Kriegsgefangener der russischen Armee. Nach seiner Freilassung und der Rückkehr nach Nürnberg beginnt er ein Praktikum bei der „MAN - Maschinenfabrik Augsburg-Nürnberg“ und bleibt dort bis zu seiner Rente in der Werbeabteilung. Im Jahr 1953 heiratet er Elli Götz, 1961 wird ihr Sohn geboren. Fast sein ganzes Leben ist Otto Fuchs künstlerisch tätig, am liebsten schnitzt er Figuren aus Holz. In Nürnberg Buchenbühl hat er sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche mit Holzskulpturen ausgestattet. Otto Ferdinand Fuchs stirbt am 25. Januar 2016.

Empfohlene Zitierweise:
Fuchs, Otto: Zu Fuß auf der Flucht durch Lettland, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/otto-fuchs-zu-fuss-auf-der-flucht-durch-lettland.html
Zuletzt besucht am: 23.04.2024

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