Zeitzeugen > Geteiltes Deutschland: Modernisierung

Rainer Noack: Die X. Weltfestspiele in Berlin 1973

Dieser Eintrag wurde von Rainer Noack (*1955) am 25.03.2000 in Leipzig verfasst.

"Für antiimperialistische Solidarität, Frieden und Freundschaft"

Es gibt Ereignisse im Leben eines Menschen, die sich einprägen, unabhängig von ihrer politischen Bedeutung. Zu einem solchen Ereignis gehören für mich die X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten im August 1973 in Berlin, der damaligen Hauptstadt der DDR.

Ich war damals Schüler der 10. Klasse der 42. Polytechnischen Oberschule in Leipzig. An dieser Schule gab es auf jeder Klassenstufe sogenannte "Klassen mit erweitertem Russischunterricht". Das heißt: SchülerInnen konnten bereits ab der 3. Klasse die russische Sprache erlernen und wurden ab der 7. Klasse bei Gastlehrern aus der UdSSR unterrichtet.

{UbStart]Vorbereitung auf die X. Weltfestspiele

Ebenso wie in der gesamten DDR begann die Vorbereitung auf die X. Weltfestspiele in Berlin auch an den Schulen bereits viel früher. Unsere Klasse spendete Geld für die Durchführung des Ereignisses. Und während in den früheren Jahren westdeutsche Rundfunksender, wie z.B. Radio Luxemburg und Bayern 3, für uns wesentlich interessanter waren, änderte sich das in den Jahren 1971/ 72. Neue Rundfunksendungen "HALLO - das Jugendjournal" auf Stimme der DDR und die Sendungen von DT 64 mit einer völlig neuen Musik zogen uns an. Die "Puhdys", die "Renft-Combo" u.a. bestimmten mit ihren neuesten Titeln die Diskussion in den Klassen. Aber auch ein Titel der DDR Singebewegung zu den X. Weltfestspielen ist mir noch im Gedächtnis: "Ja, ja wir treffen uns auf jeden Fall Sommer 73 zum X. Festival, ...". Dazu kam die Sendung "Rund" des DDR-Fernsehens, in der auch Gruppen aus dem Westen auftraten, z.B. Middle of the Road u.a.

"For anti-imperialist solidarity, peace and friendship"

Aber die damals schönste Mitteilung war, dass einige SchülerInnen unserer Schule an den X. Weltfestspielen teilnehmen durften. Der Abreisetermin für unsere Gruppe war die Nacht vom 1. zum 2. August 1973. Am Tage hörten wir die Meldung im Radio, dass Walter Ulbricht, der langjährige 1. Sekretär des ZK der SED, verstorben sei. Die Befürchtungen machten die Runde, daß dieser Tod den Ablauf der X. Weltfestspiele verändern könnte, was aber nicht der Fall war. Am Abend trafen wir uns im Jugendklubhaus "Schwarzer Jäger" in Leipzig-Leutzsch, wo bis zur Abreise mit der Straßenbahn und dem Zug von "Berliner Güterbahnhof", eine Disko organisiert worden war und natürlich die obligatorischen Belehrungen und Einweisungen erfolgten. Irgendwann nach Mitternacht ging die Reise los, wie gesagt zunächst mit Sonderstraßenbahnen der Leipziger Verkehrsbetriebe (LVB) und dann mit dem Zug.

Ankunft in Berlin

Am 2. August 1973 kamen wir mit der gesamten Delegation des Stadtbezirkes Leipzig-West gegen 11 Uhr auf dem Bahnhof Berlin Schöneweide an und wurden nach einem großen Appell auf einem Sportplatz in der Nähe des Bahnhofs auf unsere Quartiere verteilt. Ich wurde bei einer Familie untergebracht, die damals in Ostberlin bekannt war. Der Gastgeber sollte der älteste Hugenotte von Berlin gewesen sein - 93 Jahre. Ich wurde freundlich aufgenommen. Die Einrichtung war spartanisch, aber auf großen Komfort legte niemand Wert. Den größten Teil des Tages waren wir ja sowieso unterwegs. Die Verpflegung wurde durch Verpflegungsbeutel und durch Wertmarken für das Mittagessen organisiert, mit denen man in fast allen Gaststätten einer bestimmten Preisklasse essen konnte. Auch wenn sich die Massen von FDJ-lern und Gästen aus aller Herren Länder durch Berlin bewegten, gab es kaum Probleme. Der Nahverkehr lief Tag und Nacht reibungslos.

Natürlich bekamen wir nicht zu allen Veranstaltungen Karten. Auf den täglich morgens stattfindenden Appellen wurde uns mitgeteilt, an welchen Veranstaltungen wir teilzunehmen hatten. Die restliche Zeit des Tages und vor allem abends waren wir auf eigene Faust unterwegs und sahen uns an, was auf den Bühnen so los war. Das Sammeln von Unterschriften anderer Festivalteilnehmer auf einem Festivaltuch war eine unbedingte Notwendigkeit, denn man wollte ja zu Hause zeigen, dass man viele Leute aus den unterschiedlichsten Ländern getroffen hatte.

"Pour la solidarité anti-impérialiste, pour la paix et l'amitié"

Die Veranstaltung auf dem Marx-Engels-Platz, dem heutigen Schlossplatz in Berlin, stellte damals einen Höhepunkt der X. Weltfestpiele dar. In den Schulen, initiiert durch die FDJ, fanden eine Vielzahl von Solidaritätsaktionen statt. Und während die Unterstützung für Chile unter Salvador Allende gerade aktuell war, war eine andere Amerikanerin ein Symbol, Angela Davis. Sie sprach auf dieser Veranstaltung, auf der FDJ-ler aus allen Bezirken der DDR und Gäste aus dem Ausland anwesend waren. Eine Losung machte die Runde - "Wenn der Springer noch so hetzt, unser Festival das fetzt." - und viele Teilnehmer dieser Veranstaltung schrien sie so laut sie konnten, denn man wollte ja, dass man im Springerhochhaus in Berlin-West gehört wird.

"Por la solidaridad antiimperialista, la paz a la amistad"

In Berlin hatte es allen gefallen und die politische Komponente spielte dabei nicht die Hauptrolle. Es war etwas los, es wurde beginnend mit der Vorbereitung der X. Weltfestspiele der Jugend und Studenten 1973 in Berlin eine Menge geboten, was bis dahin nicht üblich war. Wenn heute Historiker schreiben, dass diese Zeit für die Jugendlichen wie ein Kulturschock gewirkt haben muss, so ist diese Einschätzung sicherlich zutreffend. Die DDR-Rockmusik, Diskos, Jugendsendungen in Rundfunk und Fernsehen sind nur einige Beispiele für die Entwicklung jener Jahre. Die Tage in Berlin waren viel zu schnell vorbei, und Gott sei Dank waren ja die Sommerferien noch nicht zu Ende. Auf dem gleichen langen Wege, wie wir nach Berlin fuhren ging es auch wieder nach Leipzig zurück. Und etwas Erholung nach kurzen Nächten in Berlin tat Not. Und da ich meine Lehre erst am 1. September 1973 begann, verbrachte ich die darauffolgenden 14 Tage in Grünstädtl im Erzgebirge und arbeitete als Gruppenhelfer in einem Betriebsferienlager des Bau- und Montagekombinates Süd - Industriebau Leipzig, wo sich Kinder für einen Elternbeitrag von 12,- DDR Mark zwei Wochen erholten.

Empfohlene Zitierweise:
Noack, Rainer: Die X. Weltfestspiele in Berlin 1973, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: [LkStart: http://www.hdg.de
/lemo/zeitzeugen/rainer-noack-weltfestspiele-in-berlin.html]http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/rainer-noack-weltfestspiele-in-berlin.html

Zuletzt besucht am: 25.04.2024

lo