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Silvia Koerner: Aus der Schule geplaudert

Dieser Beitrag wurde von Silvia Koerner (*1938) aus Schweden im Jahr 2000 verfasst.

Über meinen Klassenlehrer

Es gab nicht viele Erwachsene in der Nachkriegszeit in Berlin, die für uns Kinder Vorbilder waren, zu denen wir aufsehen konnten. Zu den wenigen Ausnahmen, die es dennoch gab, gehörte mein Klassenlehrer Herr Hoffmann.

Es muß im Jahre 1951 oder 1952 gewesen sein, als er vor der versammelten Klasse anläßlich eines Gedenkfeiertages für die Kriegsopfer über sich selbst sprach und das, was ihm im Krieg passiert war. Es war nur dieses eine Mal, daß er darüber sprach und er bat uns, dieses Thema danach nicht wieder zu erwähnen. Er erzählte uns, daß er Student war und Lehrer werden wollte. Hitler hatte aber andere Pläne und schickte den jungen Studenten an die Front! Dort passierte es ihm, daß er auf eine Mine trat, die explodierte. Als er aus seiner Bewußtlosigkeit erwachte, wurde ihm klar, daß er sich in einem Lazarett befand. Er wollte natürlich sofort seiner Verlobten schreiben und ihr mitteilen, daß er verletzt war. Seine Kameraden konnten ihn aber zunächst davon abhalten. Allmählich wurde ihm aber klar, wie schwer verletzt er war und, daß er schon allein aus diesem Grunde gar nicht schreiben konnte. Da bat er seine Kameraden dies für ihn zu tun und seiner Verlobten zu schreiben, daß er die Verlobung auflösen wolle, denn er wollte nicht, daß sie ein Leben lang an einen Kriegsversehrten gebunden sein sollte. Daraufhin antwortete sie, daß es keine Rolle spielen würde, wie er aussähe und welche Verletzungen er habe, sie liebe ihn trotzdem.

Herr Hoffmann kehrte heim, beendete sein Studium, heiratete seine Verlobte und beide arbeiteten fortan als Lehrer in der gleichen Schule. In diese Schule, unter vielen hundert anderen Schülern, ging auch ich. Als Herr Hoffmann zum ersten Mal unser Klassenzimmer betrat, konnten wir mit eigenen Augen sehen, wie übel zugerichtet er war.

Kriegsverletzungen

Sein rechter Arm endete am Handgelenk - die Hand war weg. Der linke Arm war unterhalb des Ellbogens amputiert - die linke Hand war auch weg. Sein Gesicht war voll von vernarbten Stellen, wo er von Splittern getroffen worden war. Sein linkes Auge war weg. An seinem Platz befand sich ein Glasauge; der rechte Fuß war zerfetzt. Ein übermäßig großer Schuh diente als Stütze und Ausgleich. Hinzu kamen noch einige innere Verletzungen, die er erlitten hatte.

Herr Hoffmann war mindestens einen Kopf kürzer als wir Jugendlichen und man hätte meinen können, daß dies nicht gerade dazu beitragen würde, seine Stellung als Lehrer zu erleichtern. Tatsächlich verhielt es sich umgekehrt; nichts hinderte ihn, falls es sich als notwendig erwies, seine eigenen kleinen Tricks und Einfälle einzusetzen, um mit uns zurechtzukommen. Bereits am ersten Tag als unser Klassenlehrer stellte Herr Hoffmann gewisse Regeln auf, die für sämtliche Schüler ohne Ausnahme galten. Zu diesen Regeln gehörte, daß wir, so bald er am Morgen das Klassenzimmer betrat, zu ihm vorzutreten hatten, um ihn mit "Handschlag" zu begrüßen. Einer nach dem anderen gingen wir zu ihm, ergriffen und drückten das zusammengenähte Stück Fleisch, an dem zuvor seine Hand gewesen war, sagten guten Morgen und knicksten oder verbeugten uns vor ihm.

Heute weiß ich und bin davon überzeugt, daß Herr Hoffmann mit dieser Begrüßungzeremonie bei vielen von uns den Grundstein legte, um später im Leben besseres Verständnis und größere Toleranz gegenüber Menschen zu haben, die ein physisches Handikap haben.

Nach dieser Begrüßungzeremonie folgten andere Regeln und Routinen. Zu diesen gehörten, daß wir ihm den Hut abnahmen, die Knöpfe seines Mantels aufknöpften und ihm den Mantel auszogen. Wir öffneten seine Aktentasche und legten ihren Inhalt auf den Tisch und befestigten die Prothese, eine künstliche Hand aus Holz, die mit einem Handschuh aus Leder bekleidet war, an seinem Handgelenk. Mit Hilfe von Muskeln im Arm konnte er Daumen und Zeigefinger der Prothese öffnen und schließen, so daß er dazwischen ein Stück Kreide einklemmen konnte. Auf der Oberseite des Handschuhs waren verschiedene Fächer, in die er, je nach Bedarf, einen Füllfederhalter, eine Gabel oder einen Löffel einschieben konnte.

Die Klasse wurde ein Team

Herr Hoffmann ließ niemals einen Zweifel darüber aufkommen, daß er auf Hilfe angewiesen war. Außer Zweifel gestellt war aber auch, daß er sich diese Hilfe von uns erwartete. Die Klasse wurde ein Team; jeder einzelne Schüler wußte, was und wann er etwas zu tun hatte, um Herrn Hoffmann das Leben ein wenig zu erleichtern; darüber wurden keine unnötigen Worte verloren.

Immer, wenn es zur großen Pause läutete, dauerte es nicht lange und Frau Hoffmann kam ins Klassenzimmer. Sie holte ihren Mann ab. Gemeinsam gingen sie dann geradewegs zur Toilette. Jedem ist es begreiflich, daß man ohne Hände keinen Hosenschlitz öffnen kann! Das wußten natürlich auch wir.

Dennoch konnten wir, wenn Frau Hoffmann mit ihrem Mann auf die Toilette ging, uns ein heimliches Gekicher nicht verkneifen, denn die Phantasien in unseren Teenager-Köpfen machten keinen Halt vor der Toilettentür, hinter welcher Herr und Frau Hoffmann verschwunden waren!

Manchmal, so glaube ich, muß Herr Hoffmann wohl auch Lust verspürt haben, seine Holzprothese zu anderen Zwecken zu benutzen, als sie eigentlich vorgesehen war! Bei solchen Gelegenheiten wurde so manche Unterrichtsstunde zu einem richtigen Happening. Dies geschah meistens bei Schreib- oder Mathematikprüfungen, wenn wir völlig konzentriert und gebeugt über unseren Heften saßen. Herr Hoffmann ging dann auf leisen Sohlen zwischen den Bänken umher und schaute uns, ohne daß wir es merkten, über die Schultern. Wenn er dabei einen Fehler entdeckte, dann landete unweigerlich seine Prothese auf dem Kopf desjenigen, der den Fehler gemacht hatte.

Ganz besonders gern denke ich auch an die Zeit im Sommer 1953 zurück, in der Herr und Frau Hoffmann mit uns Schülern der 9. Klasse eine Klassenreise nach Lenggries/Oberbayern machten. Eine solche Reise ist eigentlich schon eine sehr große Verantwortung und Belastung für Menschen, die unverletzt aus dem Krieg zurückgekehrt sind. Wenn sie aber von jemandem wie Herrn Hoffmann gemacht wird, dann bewundere ich ihn dafür noch im Nachhinein! Herr Hoffmann war und bleibt für mich ein vorbildlicher Mensch!

… meine Musiklehrerin

Fräulein Hahn hatte es oft nicht leicht; denn ihr Name bedeutete für uns Schüler eine Herausforderung. Wo immer sich Fräulein Hahn aufhielt, im Schulgebäude oder auf dem Schulhof, so wurde sie meistens von einem melodischen Kikeriki der Schüler begleitet. Ich machte da keine Ausnahme.

… meine Religionslehrerin

Bis heute kann ich nicht verstehen, warum drei meiner Klassenkameradinnen auf zwei Klassenfotos, die Ende der 40er Jahre in Anwesenheit unserer Religionslehrerin gemacht wurden, ausgeschlossen wurden. Zwei Mädchen durften dem Fotografen nicht ihr Gesicht zeigen, sondern ihm nur den Rücken zuwenden; ein anderes mußte sogar in der Ecke stehen! Was immer diese drei Mädchen damals gesagt oder getan haben mögen, so bin ich der Auffassung, daß die Bestrafung zu hart war und nicht nur diese drei Mädchen betraf; sie betraf auch uns andere auf den Fotos, denn sie sind weder eine nette Erinnerung noch zum Vorzeigen geeignet!

Hoffnung und Zuversicht

Mit einem Foto will ich die Erinnerungen an meine Kindheit während des Krieges und in den Jahren danach beenden. Es wurde an einem Tag im Frühjahr des Jahres 1953 aufgenommen. Im Jahr zuvor hatte die DDR die Grenzen zu den Ost-Sektoren in Berlin abgeriegelt. Der kalte Krieg hatte begonnen. Wenn man aber das Foto etwas genauer betrachtet, kann man sehen, daß meine Mutti, mein Bruder, meine Zwillingsschwestern und ich jung, gesund und (für damalige Zeiten) modisch gekleidet sind und hoffnungsvoll und zuversichtlich der Zukunft entgegensehen, zu der auch die neu gepflanzten Bäume und der geparkte Motorroller gehören!

Empfohlene Zitierweise:
Koerner, Silvia: Aus der Schule geplaudert, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/silvia-koerner-aus-der-schule-geplaudert.html
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