Zeitzeugen > Nachkriegsjahre

Silvia Koerner: Kinderalltag Ende der vierziger Jahre

Dieser Beitrag wurde von Silvia Koerner (*1938) aus Schweden im Jahr 2000 verfasst.

Badevergnügen und Straßenbahnfahrten der besonderen Art

Die vielen Einschränkungen, die es in der Nachkriegszeit immer wieder gab, beeinflußten auch die Routinen im Hinblick auf unsere körperliche Reinhaltung. Da warmes Badewasser immer nur in sehr begrenztem Umfang zur Verfügung stand, wir jedoch vier Geschwister waren, bedeutete dies, daß wir einer nach dem anderen im gleichen Badewasser baden mußten. Da ich natürlich keine Lust hatte, in jenem Badewasser zu baden, in dem zuvor meine drei Geschwister gelegen hatten, war es äußerst wichtig, daß ich mich so früh wie möglich vor allen anderen als Nummer eins für das wöchentliche Bad anmeldete. Wollte ich also nicht die letzte sein, mußte ich ganz einfach immer "auf Draht sein", und zwar in vielerlei Beziehungen. So kam es, daß diejenige von uns vieren, die morgens zuerst aufwachte, auch diejenige war, die die anderen drei brutal weckte mit dem lauten Ruf: "Erster Badewanne", "erster Toilette" oder "erster Kohlenkiste" (letzteres war beliebtester Sitzplatz in der Küche neben dem Ofen) usw.

Für uns, die wir in Neu-Tempelhof zur Schule gingen, bedeutete Schwimmunterricht immer ein ganz besonderes Abenteuer, denn entweder mußten wir uns mit der Straßenbahn zum "Stadtbad Baerwaldstraße" in Kreuzberg begeben oder zum "Stadtbad Hauptstraße" in Schöneberg. Für diese Fahrten mit der Straßenbahn gab mir Mutti immer die genaue Summe Geld, die eine solche Hin- und Rückfahrt kostete. Unter uns Schülern war es aber zu einer Art Wettkampf oder Spiel geworden, dieses Geld zum Einkauf von Süßigkeiten zu verwenden und umsonst mit der Straßenbahn zu fahren. Wenn beispielsweise eine Straßenbahn aus drei Wagen bestand, dann gab es auch einen Schaffner, dessen Aufgabe es war Fahrkarten zu verkaufen und zu kontrollieren. Bereits, wenn sich die Bahn der Haltestelle näherte, an der wir standen, guckten wir, in welchem der Wagen sich der Schaffner befand. Befand er sich vorne, dann stiegen wir hinten ein, und befand er sich hinten, dann stiegen wir vorne ein. Sollte es ihm dennoch gelingen, sich durch alle stehenden Fahrgäste durchzudrängeln und sich uns zu nähern, dann sprangen wir bei der nächsten Haltestelle ab und wieder in einem der anderen Wagen auf. So fuhren wir von Haltestelle zu Haltestelle umsonst, bis wir unser Ziel erreicht hatten. Die Rückfahrt war genauso abenteuerlich und spannend, und das eingesparte Geld wurde in Sahnebonbons angelegt

Halbwaisen und Vollwaisen

Ritas Papa war aus dem Krieg zurückgekommen, ebenso Evas und Marias Papa. Das gleiche galt auch für Giselas. Aber da waren noch all wir anderen, wie Hanne, Tanja, Gerhard, Bruno, Manfred, Dieter, Helga, Silvia, Edith, Jutta, Günther, Karin, Horst und Helmut, die Jahr für Jahr auf die Rückkehr ihrer Väter warteten. Wir waren viele, wir warteten lange und, wir warteten vergebens! Wir waren "Halbwaisen", womit gemeint war, daß wir wegen des Krieges "nur" einen Elternteil verloren hatten. Außer uns Halbwaisen gab es aber auch Kinder, die "Vollwaisen" waren. Sie hatten durch den Krieg beide Eltern verloren. Bärbel in meiner Klasse gehörte zu jenen, die sowohl Vater als auch Mutter verloren hatte; sie wuchs bei ihrer Großmutter auf. Lehrer wie Schüler bemitleideten sie aus diesem Grunde besonders; ich auch, aber in gewissem Sinne war ich auf Bärbel irgendwie auch eifersüchtig. Ihr galt so viel Aufmerksamkeit, uns Halbwaisen nicht, weil es halt so viele von unserer Sorte gab. Von den Nachbarn hörte ich ab und zu nur mal so Bemerkungen wie "es sind immer die besten, die nicht aus dem Krieg zurückkommen". Darauf konnte ich mir meinen eigenen Reim machen, was sie damit meinten.

Alleinerziehende Mütter

In der Nachkriegszeit gab es oft Ohrfeigen, weil diese wohl nach Meinung der Mütter die einfachste Methode waren, ihre vaterlosen Kinder zu erziehen. Ich wehrte mich gegen die Ohrfeigen, wenn ich bereits in der Wohnung war, und Mutti mich schlagen wollte. Dann flüchtete ich in der Regel ins Schlafzimmer, dessen Fenster und Lüftungsfenster - jedenfalls im Sommer - meistens offenstanden. Ich sprang dann rasch zu einem der Fenster, lehnte mich hinaus und schrie mehrmals laut und verzweifelt: "Hilfe, Hilfe, Mörder!" Da die Fenster zum Hof hin lagen, hatten meine Hilferufe die Wirkung eines Echos. Dies wiederum führte dazu, daß viele neugierige Mieter auf der anderen Seite des Wohnblocks ihre Fenster öffneten, um zu sehen, wer da wohl "ermordet" werden sollte und eventuell auch noch einen Blick von dem "potentiellen Mörder" zu erhaschen! Natürlich wollte Mutti gegen solche Verdächtigungen der anderen Mieter vorbeugen, weshalb sie zuerst einmal auf einen Stuhl stieg, um die Lüftungsfenster zu schließen. Das war ihr wichtig. Für mich war es wichtig, daß sie sich, während sie damit beschäftigt war die Fenster zu schließen, sich wesentlich beruhigte und ich also nur halb so viel Schläge bekommen würde, als von Anfang an gedacht waren. Aber auch die Hälfte war noch zu viel, fand ich, und ich würde sie nicht freiwillig in Empfang nehmen! Also machte ich einen Sprung auf das Ehebett und hüpfte von der einen Seite zur anderen, so daß es Mutti unmöglich war, mich einzufangen. Ich spielte Katze und Maus mit ihr; ich begriff nicht, daß ich dadurch ihre Wut erneut anstachelte. Meistens endete es damit, daß sie Edith und Jutta zu Hilfe rief, um mich einzufangen und drohte ihnen: "Wenn ihr mir nicht helft Silvia einzufangen, dann geht es euch an den Kragen!"

Frau F.

Anderen alleinerziehenden Müttern ging es ähnlich oder gar schlimmer. In guter Erinnerung ist mir Frau F. geblieben, die unermüdlich versuchte, ihre Kinder zu ernähren und gleichzeitig in einem "never ending fight" mit ihren sieben Kindern lag, die ihr auf der Nase herumtanzten und mehr oder weniger machten, was sie wollten. Jedesmal wenn ich meine Freundinnen Hanne oder Tanja nach Hause begleitete, glich die Wohnung einem Ameisenhaufen. Jedes der Kinder schien nach Lust und Laune zu kommen oder zu gehen und Freunde und Bekannte mitzubringen. Und mitten in diesem Wirrwarr saß Frau F. gebeugt über ihrer Nähmaschine und nähte ohne Unterlaß. Sie nähte Kinderkleider, denn der Bedarf an Kinderkleidern war sehr groß. Die Stoffe, aus denen sie Kinderkleider nähte, konnten alles von gestreiften oder blumigen Gardinen und Vorhängen sein bis hin zu zertrennten alten Uniformen, die ihr die Frauen der Nachbarschaft brachten mit der Bitte, daraus ein und hübsches Kleidchen zu nähen. Ich habe nie begriffen, wie Frau F. es anstellte, aus vielen häßlichen Stoffen so hübsche Kinderkleider zu nähen! Mit dieser Arbeit ernährte Frau F. sich und ihre sieben Kinder. Manchmal kam auch ich auf diese Art und Weise zu einem neuen Kleid. Leider nur bestand ein solches in der Regel aus zwei abgelegten Kleidern meiner Zwillingsschwestern, die in eins für mich umgewandelt wurden.

Die Wohnung von Frau F. war immer voller Leute. Da waren ihre eigenen Kinder, wir anderen Kinder, Frauen, die gekommen waren, um etwas nähen zu lassen oder etwas abzuholen. Mit gebeugtem Rücken saß Frau F. und nähte unerschütterlich Kinderkleider! Einige Male habe ich dennoch erlebt, wie sie in Rage und Bewegung geraten war, nämlich immer dann, wenn sie von einem ihrer Kinder gereizt worden war und es mit Ohrfeigen zur Ordnung bringen wollte. Dann rannten die beiden um den runden Tisch; das war ein Wettlauf, der immer damit endete, daß Frau F. ihn verlor.

Toilettenpapier und Briefmarken

Wir sammelten in der Nachbarschaft alte Zeitungen und verkauften sie einem Lumpen- und Papierhändler. Einige Zeitungen behielten wir aber für uns selbst, denn Toilettenpapier war auch große Mangelware. So gehörte es u.a. auch zu meinen Aufgaben, daß ich einmal pro Woche Zeitungen in ausreichend große Stücke schneiden mußte, die später als Toilettenpapier dienen sollten. Diese Zeitungsausschnitte stapelte ich in handliche Bündel und versah sie in einer Ecke mit einem Loch, durch welches ich ein Stück Schnur zog, an welches sie dann aufgehängt werden konnten. Dieses Toilettenpapier hatte gegenüber herkömmlichem Toilettenpapier (das wie gesagt nur schwer zu bekommen war) drei große Nachteile. Der erste war, daß man vielleicht einen sehr interessanten Artikel gefunden hatte und diesen zu lesen begann; aufgrund der Größe des Papiers erfuhr man aber meistens nie das Ende des Artikels. Nachteil Nummer zwei war, daß man dieses Toilettenpapier vor seiner Verwendung reiben und rubbeln mußte, um es weich zu machen, was zu Nachteil Nummer drei führte, nämlich daß sowohl Hände wie Hinterteil Druckerschwärze aufwiesen!

Um anderes Papier im Kleinformat, d.h. um Briefmarken, geht es bei folgender Episode. Wir Kinder hatten bald bemerkt, daß man, wenn man nach dem Krieg ein kleines Stückchen Papier in der richtigen Farbe, mit dem richtigen Wert, dem richtigen Motiv und mit der richtigen Anzahl von Zähnen besaß, dann konnte man damit Geschäfte machen. Wir kannten einen älteren Mann, der in seiner Wohnung Briefmarken aufkaufte und verkaufte. Zu diesem Zweck hatte er im Korridor eine Art Tresen aufgebaut, auf dem man all seine hübschen und wertvollen Briefmarken bewundern konnte.

In den Ruinen des Kasernenhofes General-Pape-Straße gab es Keller, in denen alles mögliche eingeklemmt in den Steinhaufen lag: Briefe, Formulare, vorgedruckte und ausgefüllte Postkarten und Dokumente; andere Unterlagen lagen lose da und flatterten bereits beim geringsten Windstoß umher. Manchmal lasen wir Postkarten oder Briefe, meistens fanden war aber das Geschriebene uninteressant. Von Interesse dahingegen waren die Briefmarken, die sich auf ihnen befanden. Wenn wir ausreichend viele gefunden hatten, rissen wir sie ab und gingen mit ihnen zum Briefmarkenhändler, um sie zu verkaufen. Dieser zeigte uns dann seine eigenen wertvollen Briefmarken und wollte uns so den Unterschied zwischen wertvollen und wertlosen Briefmarken beibringen, damit wir nicht immerzu mit wertlosen Briefmarken zu ihm kommen würden. Wir waren nicht nur gelehrig, sondern lernten auch schnell. Bereits bei unserem nächsten Besuch bei ihm, bewiesen wir das. Die Clique teilte sich auf; einige diskutierten mit dem Briefmarkenhändler über Briefmarken, während die anderen einige seiner wertvollsten Briefmarken stahlen. Ohne zu einem "Geschäftsabschluß" zu kommen, verließen wir die Wohnung und versprachen, das nächste Mal ganz bestimmt mit wertvollen Briefmarken zu ihm zu kommen.

Das nächste Mal, als wir ihn besuchten, hatten wir seine eigenen Briefmarken mit dabei, die wir ihm zum Kauf anboten. Dieses Mal war er zufrieden mit den Briefmarken und auch mit uns. Er kaufte sie ohne zu bemerken, daß es sich dabei um seine eigenen handelte. Bei den vielen Briefmarken, die er besaß, war es ihm scheinbar unmöglich jede einzelne wiederzuerkennen oder, es könnte ja auch gewesen sein, daß er senil war. Uns kümmerte es wenig, warum er seine eigenen Briefmarken nicht wiedererkannte. Wir waren nur froh über das Geld, das wir erhalten hatten.

Spiele, Spielzeug, Streiche

Vielleicht hatte die eine oder andere Puppe oder ein Teddybär den Krieg überlebt, aber viel Spielzeug war für uns nach dem Krieg nicht mehr da. In unseren Spielen waren wir hauptsächlich auf unsere Phantasie angewiesen und, mit Dingen, die uns zur Verfügung standen, erfanden wir auch neue Spiele. Ein sehr beliebtes Spiel war es beispielsweise das Rad von einem Fahrrad oder Kinderwagen mit einem Stock zu "peitschen" und es die Strasse rauf und runter zu treiben. Wer am schnellsten war, hatte gewonnen. Ein ähnliches Spiel war es, einen Holzkreisel mit Hilfe eines Stockes, an dem eine Schnur befestigt war, voran zu treiben. Auch Spiele wie Versteckspielen, Einkriegezeck, Hopse, Radschlagen und "Mutter, Mutter wie spät ist die Uhr?" erforderten kein Spielzeug und waren sehr beliebt.

"Luftballons" besorgten wir uns aus dem Automaten im Pissoir gleich hinter S-Bahnhof Papestraße in der Suadicanistraße. Leider nur sahen die Ballons alle gleich aus, nämlich länglich, und hatten eine undefinierbare durchsichtige Farbe, denn in Wirklichkeit waren sie ja Kondome (der Marke Fromm) und, die Erwachsenen sahen es gar nicht gern, daß wir mit ihnen spielten.

Manchmal ergriff uns auch eine unbändige Lust zum Malen. Zum Malen benötigt man jedoch Kreide und, die gab es nicht. Wir waren aber auf eine sehr pfiffige Lösung gekommen. Auf dem ausgebombten Kasernenhof gab es ein Gebäude, das nicht in Trümmern lag. An diesem Gebäude hing ein Schild mit der Aufschrift "Orthopädische Werkstätten" und die Tür war verschlossen. Keiner von uns wußte, was das Schild bedeutete. Unsere große Neugier, gepaart mit der Leichtigkeit, mit der sich die Tür öffnen ließ, öffnete rasch den Weg ins Innere. Was uns dort erwartete, übertraf alle unsere Erwartungen. Da gab es viele lange Regale, die mit Armen und Beinen aus Gips gefüllt waren! Wir hatten unser eigenes Lager Kreide! Mit Gipsbeinen und Gipsarmen unter den Armen zogen wir von dannen, um auf "unserer" Straße zu malen. Wir breiteten uns über die ganze Straße aus und malten nach Herzens Lust. Nur einige wenige Radfahrer und ein paar Amis in ihren Jeeps, die auf Streife waren, störten uns bei der Vollendung unserer künstlerischen Tätigkeit.

Man könnte behaupten, daß das, was wir damals machten, nichts anderes war als das, was heute mit Graffiti bezeichnet wird. Allerdings besteht da ein kleiner Unterschied. Unsere "Kunstwerke" auf dem Straßenpflaster wurde immer mit dem nächsten Regenschauer weggespült. Heutige "Kunstwerke" müssen aufwendig mit Chemikalien entfernt werden.

Spielen auf dem ausgebombten Kasernenhof

Der ausgebombte Kasernenhof war beliebtester Spielplatz. Erwachsene zeigten sich nur recht selten, so daß wir dort ungestört spielen konnten. Heute weiß ich, daß unsere Spiele oftmals ziemlich gefährlich und sogar lebensgefährlich waren. Damals wußten wir es nicht. In einer Ruine, die im Prinzip nur noch aus Außenwänden bestand, spielten wir besonders gern. Zieletappe Nummer eins war, sich irgendwie in den zweiten Stockwerk zu begeben. Leider nur war es so, daß es keine Treppe mehr gab, auf der man hätte hinaufgehen können. Alles, was noch an eine Treppe erinnerte, waren nur die Eisenhalterungen in den Wänden, die einmal ein Treppengeländer gehalten hatten, sowie einige kleine Steinbrocken, Reste der Treppe, die rechts und links aus den Wänden herausragten. In der Mitte klaffte ein großes Loch, das nach unten den Blick auf alles Gerümpel und Gebälk freigab; schaute man nach oben, sah man den Himmel. Wie auch immer es geschehen sollte, wir wollten in den zweiten Stock! Wir kletterten wie Bergsteiger, indem wir uns an den Eisenhalterungen festhielten und vorsichtig mit den Füßen von einem kleinen Steinbrocken zum nächsten balancierten, bis sich die Finger wieder an der nächsten Eisenhalterung festklammern und konnten. Hatte man den zweiten Stock erreicht, lag Zieletappe Nummer zwei, sozusagen das Hauptziel, vor einem, nämlich die Spinde, die unten vor der Ruine lagen. Wir stellten uns an eine der Fensteröffnungen in der zweiten Etage, atmeten tief durch und sprangen dann hinab in einen der vielen auf dem Kasernenhof liegenden und vor sich hinrostenden Spinde. Einer nach dem anderen "landeten" wir mit Karacho, viel Krach und noch mehr Glück heil in oder auf einem der Spinde.

Im Keller einer anderen Ruine auf dem Kasernenhof befand sich, so hatten wir herausgefunden, eine Weinkellerei. Doch der Weg dahin war lang, dunkel und beschwerlich, denn er verlief unterirdisch quer über das Kasernengelände. Ich war nur einmal mit den anderen aus der Clique dabei. Ich hatte Angst es ein zweites Mal zu tun. Wir krochen auf allen vieren, wobei der erste und der letzte eine brennende Kerze trug, um sicherzustellen, daß uns dort unten nicht plötzlich die Luft ausging.

Angekommen im Weinkeller, verpusteten wir erst einmal und kosteten danach mit Hilfe der mitgebrachten Gummischläuche von dem Wein in den Fässern. Er schmeckte sauer und bitter, fand ich. Aber die Jungen wollten wohl uns Mädchen gegenüber gut dastehen, weshalb sie steif und fest behaupteten, daß sie nie besseren Wein getrunken hätten!

Das Krankenhaus als Spielplatz

Als Abwechslung zum Kasernenhof war das St. Joseph Krankenhaus ein anderer äußerst beliebter "Spielplatz". Schon allein die Tatsache ungesehen in das Gebäude zu gelangen, war eine große Herausforderung. In der Regel saß eine Nonne im Pförtnerhäuschen, dessen obere Hälfte verglast war und eine Luke hatte, während die untere Hälfte undurchsichtig war. Einer aus unserer Clique leitete ein Gespräch mit der Nonne ein, derweil wir anderen uns im Hintergrund hielten. Im Laufe des Gespräches und außer Sichtweite der Nonne, krochen wir dann einer nach dem anderen an dem Pförtnerhäuschen vorbei in das Krankenhaus. Wir gingen zuerst leise und gesittet, bis wir den Keller erreicht hatten. Dort fühlten wir uns relativ sicher, denn es verirrte sich selten jemand dorthin. Im Keller ließen wir dann unserer aufgestauten Energie freien Lauf. Lauthals sangen, schrien, pfiffen wir und, kein Mensch mischte sich ein oder schimpfte uns aus. Am besten waren aber die langen blank polierten und schräg abfallenden Gänge, die sich gut als Schlitterbahnen eigneten! Wir rutschten und schlitterten, bis die Besuchszeit zu Ende war. Still und sittsam verließen wir zusammen mit den Besuchern das Gebäude.

Manchmal gelangten wir auch in das Krankenhaus, indem wir vorgaben unsere Freunde, die Kinder von Totengräber R., besuchen zu wollen. Mein Bruder Dieter ging mit einem Jungen der Familie, die in einer Dienstwohnung auf dem Krankenhausgelände wohnte, in dieselbe Schulklasse. Über Totengräber R. waren auch immer viele unheimliche Geschichten im Umlauf, bei denen es sich oft um Scheintote handelte. Man wußte nie, ob die Geschichten wahr oder nur ausgedacht waren.

Klingelstreiche

Klingelstreiche waren auch beliebt und gehörten fast zur Tagesordnung. Dazu haben wir zwei gegenüberliegende Wohnungstüren (die ja nach innen geöffnet werden!) mit einem Strick an den Handgriffen der Türen zusammengebunden. Dann steckten wir in jeden Klingelknopf einen kleinen Holzsplitter oder ein Streichholz, drückten diesen ein, so daß der Klingelknopf eingedrückt verblieb und ununterbrochen klingelte. Dann konnten wir in aller Ruhe im Hausflur miterleben, wie in beiden Wohnungen verzweifelt versucht wurde die jeweilige Tür zu öffnen und wie Flüche und Verwünschungen über unseren Köpfen ausgesprochen wurden. Je mehr sich die Mieter aufregten, umso mehr Spaß fanden wir an der Sache. Wir hatten außerdem noch eine andere Variante Klingelstreich auf Lager, die wir an neu zugezogenen Kindern wie beispielsweise Axel ausprobierten. Axel wollte auch zu unserer Clique gehören. Das durfte er aber nur, wenn er zuvor eine Prüfung bestanden hatte. Die ging folgendermaßen vonstatten: Axel mußte sich in das oberste Stockwerk eines Hauses begeben. Dort hatte er auf ein Zeichen von uns im ersten Stock oder im Parterre zu warten. Erst dann sollte er die Treppe hinunter rasen, was es das Zeug hielt. Axel tat, wie ihm geheißen. Was er nicht wußte, war, daß wir in der Zwischenzeit im ersten Stock oder im Parterre an beiden Wohnungstüren geklingelt hatten und dann abhauten. Axel rannte also auf unser Zeichen hin los und hatte die Prüfung bestanden, wenn es ihm gelungen war, ungeschoren an den Mietern vorbeizukommen, an deren Türen wir geklingelt hatten. War er jedoch zu langsam oder zu schnell, dann handelte er sich Ohrfeigen ein und war noch immer nicht in unserer Clique!

Vorboten des Wirtschaftswunders?!

Nahe unserer Wohnung (Ecke Hessenring) hatte ein Schuster in seiner Wohnung im Kellergeschoß eine Schuhreparaturwerkstatt eingerichtet. Wenn ich ein Paar Schuhe zur Reparatur hinbrachte oder abholte, breiteten sich schon im Hausflur die verschiedenen Düfte von Leder, Leim, Schuhputzmittel usw. aus und kamen mir entgegen. Ich liebte diese Düfte! Und ich liebte den kleinen alten Mann, der auf einem niedrigen Schemel saß und mich durch seine Brille anblinzelte, deren zerbrochener Bogen mit Hilfe eines Pflasters zusammengehalten wurde. Er trug eine graue, an den Ellbogen ausgebeulte, Strickjacke und eine zerschlissene Hose, die zum größten Teil von einer dunkelbraunen Lederschürze bedeckt war. Der alte Mann schaute mich jedes Mal freundlich aber wortlos und fragend an. Er konnte nicht sprechen, denn wenn er es getan hätte, wären die vielen Zwecken, die er zwischen seinen Lippen hielt, herausgefallen.

Der Schuster war umgeben von Regalen, in denen die Schuhpaare standen, die repariert waren oder repariert werden sollten. Neben Kinderschuhen aus glänzendem Lack standen schiefgelaufene Stiefel und Schuhe aus Krokodilleder mit hohen Absätzen. Verstreut auf dem Fußboden, auf dem Tresen und in den Regalen lagen außerdem allerlei Werkzeuge und Gegenstände, die er brauchte. Und mittendrin saß er selbst und war gerade dabei eine Schuhsohle an einem Schuh anzunageln, den er zwischen seinen Knien eingeklemmt hielt.

Spannende Geschäfte in Tempelhof

Wenn Mutti mich "zum Bäcker an der Ecke" (Bäumer-Plan) schickte, um frische Schrippen zu kaufen, dann tat ich dies mit größter Freude. Noch bevor ich um die Straßenecke gebogen war, wo die Bäckerei lag, konnte ich den Duft frisch gebackenen Brotes riechen und genußvoll einatmen. Als die Zeiten nach dem Krieg dann noch ein wenig besser wurden und, wenn es sich die Leute leisten konnten, dann wurden Schrippen und Brot bis an die Wohnungstür geliefert. Man bezahlte im Voraus und hinterließ beim Bäcker einen Stoffbeutel mit seinem Nachnamen. Danach bekam man jeden Morgen die bestellte Ware in seinem Stoffbeutel, der an den Handgriff der Wohnungstür gehängt wurde. Oh wie sehr liebte ich diesen wunderbaren Duft frischer Schrippen, in all ihren Beuteln, an all den Wohnungstüren! Er zog einen förmlich aus dem Bett!

Eines der spannendsten, gleichzeitig aber auch "unbehaglichsten", Geschäfte in ganz Tempelhof, lag am T-Damm (Tempelhofer Damm) gleich rechts hinter der Unterführung von S-Bahn Tempelhof. Dort gab es Lehrmittel. Im vorderen Raum konnte man sich Landkarten, Erdkugeln, Schulbücher und ähnliches ansehen. Im hinteren Raum jedoch gab es so richtig gruselige Sachen in einer Menge von großen, kleinen, runden, vierkantigen und länglich geformten durchsichtigen Gläsern und Behältern zu bestaunen. In dieses Geschäft traute ich mich nur in Begleitung meines großen Bruders. Staunend und lange sah ich mir unter anderem zweiköpfige Eidechsen, dünne und dicke Schlangen, kleine Spinnen mit pelzigen Körpern und Insekten, Mißgeburten verschiedener Art, missgebildete Körperteile wie eine Hand ohne Daumen oder ein Fuß mit drei großen Zehen und andere furchterregende Dinge. Alle diese Teile waren eingelegt in einer klaren, wasserähnlichen Flüssigkeit und die Behälter waren dicht verschlossen. Nach einem Besuch in diesem Geschäft war ich meistens ziemlich verwirrt und löcherte auf dem Nachhauseweg Dieter mit allen möglichen Fragen.

Empfohlene Zitierweise:
Koerner, Silvia: Kinderalltag Ende der vierziger Jahre, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/silvia-koerner-kinderalltag-ende-der-vierziger-jahre.html
Zuletzt besucht am: 26.04.2024

lo