Dieser Eintrag wurde von Werner Pethke (* 1947) in Lindenberg bei Berlin verfasst.
Ein einmaliges Ereignis?
Die Sophienkirche in Berlin im Fadenkreuz des MfS.
Man schrieb das Jahr 1988, die DDR im 39. Jahr ihres Bestehens rief mit dem beginnenden Jahr zum staatlich gelenkten Rosa-Luxemburg-Gedenkmarsch in Ostberlin auf. An diesem Gedenkmarsch beteiligten sich zum ersten Mal mehrere DDR-Oppositionelle mit eigenen Transparenten. Auf denen las man den Ausspruch von Rosa Luxemburg "Die Freiheit ist immer auch die Freiheit der Andersdenkenden".
Viele wurden festgenommen und mußten unter Druck gesetzt die DDR verlassen. Unter denen befanden sich auch Lotte und Wolfgang Templin. Beide hatten sich für die Existenz einer Staatsbürgerschaftsrechtsgruppe stark gemacht und mit ihr zusammengearbeitet. Beide kamen aus der "Initiative für Frieden und Menschenrechte", die den "Grenzfall", eine verbotene Untergrundzeitschrift, herausgab.
In der Staatsbürgerschaftsrechtsgruppe versammelten sich fast ausschließlich Leute, welche die DDR verlassen wollten. Viele hatten bereits einen Antrag auf Ausreise aus der DDR gestellt und warteten schon jahrelang auf eine Genehmigung. So war es nicht verwunderlich, daß diese Gruppe zahlenmäßig, mit weitem Abstand, die stärkste war.
Schicksal der Antragssteller
Da mit dem Antrag auf Ausreise aus der DDR die staatlichen Organe zunächst mit Repressalien antworteten, nahm oft ein Schicksal seinen Lauf, das vielen Antragstellern viel Härte abverlangte. Viele verloren ihre Arbeit und mußten sich irgendwie durchs Leben schlagen. Sie waren im Kalten Krieg der Joker zwischen den beiden Systemen, Deutschland-West und Deutschland-Ost, bei dem die Kirche zu vermitteln suchte.
Mit dem Weggang der beiden Templins nach Westberlin fehlten der Gruppe gerade die Leute, die viel organisiert hatten. Dazu kam noch, daß der Gruppe innerhalb der Zionsgemeinde keine Räume mehr zur Verfügung gestellt wurden. Die Zionskirche selbst wurde restauriert.
Treffen in der Sophienkirche
Ab und zu sah ich noch vereinzelt einige von ihnen in der Umweltbibliothek, die sich ebenfalls in den Räumen der Zionsgemeinde befand. Ich dachte darüber nach, wie ich den Leuten helfen konnte. Da fiel mir die Sophienkirche ein, eine Kirche inmitten eines großen Kirchgartens. Hier konnte man noch vor und nach dem Gottesdienst zusammenbleiben und Erfahrungen hinsichtlich der Ausreise aus der DDR austauschen sowie sich für Aktionen verabreden.
Nachdem mir der damalige Bauleiter der Zionskirche - Carlo Jordan - versicherte, daß keine Baumaßnahmen bei der Sophienkirche geplant seien, sprach ich Anfang Februar 1988 einen jungen Mann aus der Staatsbürgerschaftsgruppe an, den ich zufällig in der Umweltbibliothek getroffen hatte. Er erzählte mir, daß sich viele von ihnen jetzt in der Plesserstraße, in der Bekenntniskirche bei Pfarrer Hülse treffen würden. Ich verabredete mich mit ihm zu einem dieser Treffen. Hier ließen wir ein Blatt Papier durch die Reihen wandern, auf dem ein Treffen zum Gottesdienst in der Sophienkirche am 6.3.1988 aufgerufen wurde.
Viele warteten nicht bis zum 6.3., sondern gingen schon am darauffolgenden Sonntag zum Gottesdienst in die Sophienkirche: Pfarrer Passauer nahm sich der hilfesuchenden Leute an und redete mit ihnen über ihre Probleme. Die ehemalige Staatsbürgerschaftsrechtsgruppe nahm wieder Gestalt an und traf sich jetzt in der Bekenntniskirche und in der Sophienkirche.
Der Wunsch der Staatsmacht, die Gruppe zu zerschlagen, war nicht aufgegangen. Diese wollte eine erneute Niederlage im Kalten Krieg nicht hinnehmen. Zu tief muß noch die Enttäuschung bei der Aktion gegen die Umweltbibliothek gewesen sein. Man hatte genau das Gegenteil vom gewollten erreicht.
Umlagerung der Kirche
Ich hörte davon, daß schon am 28.2.88 vor, während und nach dem Gottesdienst Polizei und Mitarbeiter der Staatssicherheit das Gelände der Sophienkirche umlagerten und Gottesdienstbesucher kontrollierten. Die Staatsmacht zeigte ihre Zähne.
Am 6.3.88 fuhr ich früh zum Gottesdienst in die Sophienkirche. Vom weitem sah man schon, wie Polizei und Leute der Staatssicherheit Gottesdienstbesucher kontrollierten. Es wurden "Kontrollkarten" ausgefüllt, auf denen man alle Personalien festhielt. Es war nicht schwer zu erkennen, daß es sich hier um besonders ausgesuchte Leute gehandelt haben muß. Sie gingen sehr rabiat vor und langten auch schnell mal zu. Wer sich wehrte, wurde auf einen LKW verfrachtet.
Einige Gottesdienstbesucher kamen aus der Umgebung von Berlin zu einer Taufe, die sich dem Gottesdienst anschloß. Sie wirkten sehr verstört und verstanden das Ganze nicht. Ein Gottesdienstbesucher kümmerte sich um ein 7-jähriges Kind, dessen Mutter festgenommen und abtransportiert wurde, weil sie keinen Personalausweis bei sich hatte.
Irgendwie kam ich schnellen Schritts in die Kirche. Hier wurde viel diskutiert und mit Pfarrer Passauer gesprochen. Der Gottesdienst lief in seinen gewohnten Bahnen ab. Predigtthemen waren das Honecker-Leich-Gespräch und die Nachfolge Jesu Christi.
Festnahmen
Vor dem Abendmahl begannen die ersten, die Kirche zu verlassen. Ich ging hinaus auf die Hamburger Straße. Neben mir in einem Hausflur hörte ich, wie jemand um Hilfe rief. Vor der Tür standen zwei Uniformierte, die niemand hineinließen. Als die Tür sich öffnete, wurde ein Mann in einem weißen Kittel blutend abgeführt und weggefahren. Vermutlich war es ein Pfleger aus dem nahe gelegenen St. Hedwig Krankenhaus. Aber auch andere wurden festgenommen und abtransportiert.
Die Uniformierten kamen immer näher und plötzlich befand ich mich mitten in einer kleinen Gruppe, die in einen Hausflur flüchtete. Wir liefen die Treppe herauf und eine Frau klingelte an einer Wohnungstür. Sie kannte die Bewohnerin und fragte, ob wir herein kommen könnten. Die Wohnungsinhaberin war eine ältere Frau, die aus dem Fenster den Vorgang beobachtet hatte. Vom Fenster aus konnten wir sehen, wie die Polizei kontrollierte und Gottesdienstbesucher festnahm.
Die Frau versuchte, Pfarrer Passauer telefonisch zu erreichen. Nachdem dieses geklappt hatte, dauerte es trotzdem noch ungefähr zwei Stunden, bis der Pfarrer bei uns eintraf. Die Wohnungsinhaberin begrüßte ihn mit den Worten: Na, Herr Pfarrer, geht's jetzt wieder los?". Sie, eine alte Katholikin, erinnerte uns an die Zeit der Verfolgung im 3. Reich.
Der Pfarrer erklärte, daß alles geklärt sei und die Aktion zu Ende ist. Wir gingen mit ihm auf die Straße, auf der kein Uniformierter mehr zu sehen war.
Einmalige Vorgänge
Im Deutschlandfunk bekräftigte später Bischof Leich die Forderung nach einer Reiserregelung für jeden DDR-Bürger. Weiterhin sagte er, solche Vorgänge wie um die Berliner Sophienkirche seien einmalig. Solche massiven Prügeleinsätze gab es später kaum noch. Man hielt sich etwas zurück und stieß vereinzelt nur noch gezielt vor, wenn ich z.B. an die Vorgänge um die Gethsemane-Kirche denke.
Später las ich dann in der Zeitung, daß die Einsätze gegen die Bürgerrechtler bis Oktober 1989 der Vize-Polizeipräsident Dieter Dietze kommandierte, welcher nach der Wende Stationsleiter bei der Bewachung des Münchner Franz-Josef-Straß-Flughafens wurde.
Christliche Nächstenliebe
Vieles war damals schwer zu verstehen. Ein bißchen machte ich mir auch Vorwürfe, daß ich Pfarrer Passauer in eine solche Situation gebracht hatte.
Ein halbes Jahr später hätte es mich auf dem Gelände der Sophienkirche dann bald doch noch erwischt. Staatssicherheitsleute umringten mich immer stärker, so daß ich ersteinmal in die Kirche flüchtete. Der damalige Konsistorialrat Manfred Stolpe und der Rechtsanwalt Wolfgang Schnur, die diesmal anwesend waren, führten mich und meine Frau aus dem Gelände zum Konsistorium und nahmen den Vorgang aktenkundig auf.
In der Folgezeit fanden gerade in der Sophienkirche viele Erwachsenentaufen statt. Leute, die durch ihren Ausreiseantrag in Bedrängnis gekommen waren, sehnten sich nach Geborgenheit und Verständnis innerhalb der christlichen Gemeinschaft. Der Sinn der christlichen Nächstenliebe wurde für kurze Zeit neu entdeckt.
Zur Person
Werner Pethke wird am 4.01.1947 in Friedland (Niederlausitz) geboren. Er erlernt 1963 den Beruf des Fernmeldebaumonteurs und 1965 den des Fernmeldemechanikers. Von 1971 bis 1974 studiert Pethke an der Ingenieurschule in Glashütte und macht seinen Abschluss als Dipl.-Ing. (FH) für Feinwerktechnik. Nach seinem Studium arbeitet er als Ingenieur in verschiedenen Berliner Betrieben. Schon seit seiner Jugend erlebt er speziell auf seine Person ausgerichtete geheimdienstliche Überwachungs- und Kontrollmaßnahmen. 1985 knüpft er Kontakt zu oppositionellen Gruppen in der DDR unter dem Dach der evangelischen Kirche. 1988 ist er Gründungsmitglied des grün-ökologischen Netzwerkes Arche. Innerhalb des Netzwerkes wird er Sprecher der Arbeitsgruppe „Sozial-ökologische-Partnerschaft“. In der zweiten Hälfte der 1980er Jahre entwickelt er ein Patent zur ökologischen Optimierung von Kachelöfen. In seiner sozial-ökologischen Arbeit wendet sich Pethke gegen Massentierhaltung und gegen die Ausgrenzung von Andersdenkenden. Er lebt heute zusammen mit seiner Frau als Rentner in Ahrensfelde.
Empfohlene Zitierweise:
Pethke, Werner: Ein einmaliges Ereignis? Die Sophienkirche in Berlin im Fadenkreuz des MfS, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/nachkriegsjahre/werner-pethke-sophienkirche-im-fadenkreuz-des-mfs.html
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