• Beidseitig beschriebenes Flugblatt mit dem Gründungsaufruf des Neuen Forums
  • Beidseitig beschriebenes Flugblatt mit dem Gründungsaufruf des Neuen Forums

Dokument "Aufbruch 89 - Neues Forum"

Das "Neue Forum" gründet sich am 9. September 1989 im brandenburgischen Grünheide bei Berlin. Einen Tag später wird der Gründungsaufruf "Aufbruch 89" von 30 Personen unterschiedlichster Berufsgruppen aus allen Teilen der DDR unterzeichnet. Er stellt die Wünsche der Menschen in Ostdeutschland den bestehenden Verhältnissen in der DDR gegenüber. Die Verfasser fordern einen gemeinsamen "demokratischen Dialog" zwischen den Menschen in der DDR und dem SED-Regime. Jedermann soll sich an der gesellschaftlichen Umgestaltung beteiligen können. Gemäß dem Anspruch, eine Plattform für Diskussionen zu bieten, wird der Name "Neues Forum" für die Initiative gewählt.

Ort und Zeit:
DDR, 1989
Objektart:
Dokument
Bildnachweis:
Stiftung Haus der Geschichte, EB-Nr. 1990/6/104, Foto: Axel Thünker
Urheber:
Neues Forum

Dieses Objekt ist eingebunden in folgende LeMO-Seiten:

Aufbruch 89 - Neues Forum

In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört. Belege dafür sind die weitverbreitete Verdrossenheit bis hin zum Rückzug in die private Nische oder zur massenhaften Auswanderung. Fluchtbewegungen dieses Ausmaßes sind anderswo durch Not, Hunger und Gewalt verursacht. Davon kann bei uns keine Rede sein.

Die gestörte Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft lähmt die schöpferischen Potenzen unserer Gesellschaft und behindert die Lösung der anstehenden lokalen und globalen Aufgaben. Wir verzetteln uns in übelgelaunter Passivität und hätten doch Wichtigeres zu tun für unser Leben, unser Land und die Menschheit.

In Staat und Wirtschaft funktioniert der Interessenausgleich zwischen den Gruppen und Schichten nur mangelhaft. Auch die Kommunikation über die Situation und die Interessenlage ist gehemmt. Im privaten Kreis sagt jeder leichthin, wie seine Diagnose lautet und nennt die ihm wichtigsten Maßnahmen. Aber die Wünsche und Bestrebungen sind sehr verschieden und werden nicht rational gegeneinander gewichtet und auf Durchführbarkeit untersucht. Auf der einen Seite wünschen wir uns eine Erweiterung des Warenangebots und bessere Versorgung, andererseits sehen wir deren soziale und ökonomische Kosten und plädieren für die Abkehr von ungehemmtem Wachstum. Wir wollen Spielraum für wirtschaftliche Initiative, aber keine Entartung in eine Ellenbogengesellschaft. Wir wollen das Bewährte erhalten und doch Platz für Erneuerung schaffen, um sparsamer und weniger naturfeindlich zu leben. Wir wollen geordnete Verhältnisse, aber keine Bevormundung. Wir wollen freie, selbstbewußte Menschen, die doch gemeinschaftsbewußt handeln. Wir wollen vor Gewalt geschützt sein und dabei nicht einen Staat von Bütteln und Spitzeln ertragen müssen. Faulpelze und Maulhelden sollen aus ihren Druckposten vertrieben werden, aber wir wollen dabei keine Nachteile für sozial Schwache und Wehrlose. Wir wollen ein wirksames Gesundheitswesen für jeden; aber niemand soll auf Kosten anderer krank feiern. Wir wollen an Export und Welthandel teilhaben, aber weder zu Schuldner und Diener der führenden Industriestaaten noch zum Ausbeuter und Gläubiger der wirtschaftlich schwachen Länder werden.

Um all diese Widersprüche zu erkennen, Meinungen und Argumente dazu anzuhören und zu bewerten, allgemeine von Sonderinteressen zu unterscheiden, bedarf es eines demokratischen [unterstrichen] Dialogs [unterstrichen] über die Aufgaben des Rechtsstaates, der Wirtschaft und der Kultur. Über diese Fragen müssen wir in aller Öffentlichkeit, gemeinsam [unterstrichen] und [unterstrichen] im [unterstrichen] ganzen [unterstrichen] Land [unterstrichen], nachdenken und miteinander sprechen. Von der Bereitschaft und dem Wollen dazu wird es abhängen, ob wir in absehbarer Zeit Wege aus der gegenwärtigen krisenhaften Situation finden. Es kommt in der jetzigen gesellschaftlichen Entwicklung darauf an,

- daß eine größere Anzahl von Menschen am gesellschaftlichen Reformprozeß mitwirkt,

- daß die vielfältigen Einzel- und Gruppenaktivitäten zu einem Gesamthandeln finden.

Wir bilden deshalb gemeinsam eine politische [unterstrichen] Plattform [unterstrichen] FÜR DIE GANZE DDR, die es Menschen aus allen Berufen, Lebenskreisen, Parteien und Gruppen möglich macht, sich an der Diskussion und Bearbeitung lebenswichtiger Gesellschaftsprobleme in diesem Land zu beteiligen. Für eine solche übergreifende Initiative wählen wir den Namen

NEUES FORUM

Die Tätigkeit des NEUEN FORUM werden wir auf gesetzliche Grundlagen stellen. Wir berufen uns hierbei auf das in Art. 29 der Verfassung der DDR geregelte Grundrecht, durch gemeinsames Handeln in einer Vereinigung unser politisches Interesse zu verwirklichen. Wir werden die Gründung der Vereinigung bei den zuständigen Organen der DDR entsprechend der VO vom 6. 11.1975 über die "Gründung und Tätigkeit von Vereinigungen" (GB1I, Nr. 44, S. 723) anmelden.

Allen Bestrebungen, denen das NEUE FORUM Ausdruck und Stimme verleihen will, liegt der Wunsch nach Gerechtigkeit, Demokratie und Frieden sowie Schutz und Bewahrung der Natur zugrunde. Es ist dieser Impuls, den wir bei der kommenden Umgestaltung der Gesellschaft in allen Bereichen lebensvoll erfüllt wissen wollen. Wir rufen alle Bürger und Bürgerinnen der DDR, die an der Umgestaltung unserer Gesellschaft mitwirken wollen, auf, Mitglieder des NEUEN FORUM zu werden.

Die Zeit ist reif!

Die Erstunterzeichner: [unterstrichen]

Michael Arnold, Student, Leipzig; Bärbel Bohley, Malerin, Berlin; Katrin Bohley, Studentin, Berlin; Dr. Martin Böttger, Physiker, Cainsdorf; Dr. Erika Drees, Ärztin, Stendal; Katrin Eigenfeld, Bibliothekarin, Halle; Dr. Frank Eigenfeld, Geologe, Halle; Hagen Erkrath, Student, Berlin; Olaf Freund, Fotolaborant, Dresden; Katja Havemann, Heimerzieherin, Grünheide; Alfred Hempel, Pfarrer, Großschönau; Rolf Henrich, Jurist, Eisenhüttenstadt, Jan Hermann, Krankenpfleger, Brandenburg, Martin Klähn, Bauingenieur, Schwerin; Katrin Menge, Hochbauingenieur, Berlin, Dr. Reinhard, Meinel, Physiker, Potsdam; Otto Nickel, Drechsler, Dresden; Dr. Christine Pflugbeil, Ärztin, Berlin; Sebastian Pflugbeil, Physiker, Berlin; Reinhard, Dumb, Krankenpfleger, Berlin; Dr. Eva Reich, Ärztin, Berlin; Prof. Dr. Jens Reich, Arzt und Molekularbiologe, Berlin; Hanno Schmidt, Pfarrer, Coswig; Reinhard Schult, Betonfacharbeiter, Berlin; Jutta Seidel, Zahnärztin, Berlin; Dr. Eberhard Seidel, Arzt, Berlin; Lutz Stropahl, Musikerzieher, Berlin; Dr. Rudolf Tschärpe [sic!], Physiker, Potsdam; Hans Jochem Tschiche, Pfarrer, Samswegen; Catrin Ulbricht, Dresden;

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