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Gerd Sommer: Langhaarig in der DDR

Dieser Beitrag wurde von Gerd Sommer (*1954) im Jahr 2007 verfasst.

Mit Ziegenmilch ernährt

Als Gerd am 16.04.1954 in Spremberg in der damaligen DDR das Licht der Welt erblickte, wollte er keinerlei Nahrung zu sich nehmen. Also ging die Oma zu einer alten Hexe ins Nachbardorf, welche ihr riet den Jungen mit Ziegenmilch zu ernähren, was tatsächlich klappte. Bis zum 8. Lebensjahr wohnte er in Cantdorf. Der Wald mit seinen verborgenen Bunkern und alten Räuberlegenden wurde bald seine zweite Heimat. Jeder Junge wollte damals den Goldschatz des Räuberhauptmanns Lauermann finden, den er im unterirdischen Labyrinth (mit Gängen, so groß dass ein Pferd hindurchreiten konnte) zu entdecken glaubte. Er lebte mehr im Wald als zu Hause. Als seine Oma erzählte, dass die Wildschweine aus Polen zurückgekehrt waren, nahm er seinen Bogen und ging mehrere Tage zur Wildschweinjagd - ohne Erfolg.

Zur Schule in Trattendorf, in der Prügel mit Meterlinealen und Wangenkneifen noch an der Tagesordung war, ging er ab 1960. 1962 siedelte die Familie nach Spremberg über. Das Panorama aus dem Kinderzimmerfenster bildete das Kohlekombinat "Schwarze Pumpe" - kein Wald mehr! Gerd Sommer zeichnete schon bald unermüdlich alles, was ihm vor die Augen kam, und bekam schon früh den Spitznamen Rembrandt. Der Zirkus war bei Gerd beliebter als der Schulunterricht, den er mit Witz, Streichen und Rhetorik bestritt, anstatt mit auswendig gelerntem Wissen. Außerdem begann er aktiv, am Leistungssport (Kanufahren) teilzunehmen. Inmitten der 60er-Jahre, als in den USA die Beatles groß im Kommen waren und die Blumenkinder ihre Blütezeit erlebten, schwappten die Wellen davon auch zu den Jugendlichen der DDR über. Gerd gründete mit seinen besten Freunden eine Band, deren Vorbilder Lennon und McCartney waren. Deren Musik hörten sie über verbotene Radiosender wie SF Beat und Freiheitssender 904. Doch die Band war Gerd nicht genug. In der 10.Klasse startete er eine Flugblattaktion "Gegen Kommunisten" - "Gegen Lehrer". Was als Rebellion gegen Eltern und Autorität gemeint war, wurde später zur Rebellion gegen die Staatsmacht und hier schon als solche ausgelegt. Ein weiterer wichtiger Punkt war der Gewinn des 1. Platzes bei einem Malwettbewerb, bei dem seine Freunde ihn ohne sein Wissen angemeldet hatten. Als er inmitten des Publikums stand und seinen Namen verlesen hörte, wusste er, dass er malen musste.

Hippie-Jahre

In den Hippie-Jahren erlebte Gerd seine erste Liebe, und deren Ende läutete auch das Ende der 60er ein. Nach dem Schulabschluss 1970 drängte das Elternhaus ihn in einen "anständigen Beruf" - eine KFZ-Elektromechanikerlehre. Das, was ihm bei dieser Lehre am meisten Spaß machte, war das Basteln an alten Oldtimern. Nach Beendigung der Lehre 1972 arbeitete er in den Sprela-Presstoffwerken (Tassenherstellung - außen orange, innen weiß - 60er-Jahre-Look). Doch aufgrund der von ihm organisierten Streiks bekam er Ärger mit der Betriebsleitung und mehr, was zur Folge hatte, dass er zunächst keinen Job mehr bekam, und damit drohten zwei Jahre Knast wegen sogenannter "asozialer Lebensweise." Ein Fahrradunfall brachte ihn damals fast ums Leben. Ein Schädelbasisbruch führte dazu, dass ihn die Ärzte im Krankenhaus für tot erklärten und seiner Mutter seine Sachen zurückgaben. Doch wie durch ein Wunder kehrte er zurück und wurde kerngesund. Seitdem hasste er Krankenhäuser und flüchtete, sobald er wieder einmal in einem Krankenbett liegen musste. Selbst gebrochene Knochen nach einem Fenstersprung nahm er in Kauf. Er fand wieder Jobs, die ihn und seinen Sinn für harte Arbeit nachhaltig prägten. Nicht nur, dass er sich sein Geld als Portraitmaler und Bildfälscher verdiente, auch harte und unangenehme Arbeiten wie Friedhofsgärtner und Hochofenarbeiter übte er aus. Als er den Auftrag bekam, Emerson Lake und Palmer zu malen, führte ihn das zu einer Kommune, die sich in Spremberg aus Jugendlichen gutbürgerlicher Elternhäuser gegründet hatte. Die Zeit der großen Feten, langen Haare und der offenen Rebellion brach an.

Die Wut der Jugend

Schon zu seiner Lehrzeit, zur 700-Jahrfeier in Spremberg, gab es eine Massenschlägerei, wo sich alle Wut der Jugend auf die Polizeiwillkür entlud. Jugendliche schlugen sich mit Einsatzkräften der Polizei aus Cottbus, Spremberg und Hoyerswerda. Erst der Einsatz einer Hundestaffel machte der Prügelei ein Ende. Gerd selbst war nicht an der Schlägerei beteiligt, wurde aber von Freunden am Bahnhof abgeholt mit den Worten: "Heute kriegen die Bullen was auf die Fresse". 1972/73 wurde Gerd von einer Silvesterparty abgeholt, woraufhin später ein 48-stündiges demütigendes Verhör folgte. Als man ihn wieder gehen ließ, stand er zunächst unter polizeilichem Hausarrest. Das bewog ihn nach Cottbus abzuhauen und sich dort einer Gruppe Boxer anzuschließen, die von der Stasi ausgemustert worden waren, da sie sich mit ihnen auch schon physisch angelegt hatten. Die Bekanntschaft mit dem Pfarrer von Ilmersdorf führte ihn zum gleichnamigen Altar, den er komplett restaurierte. Diesen wollte man abreißen und durch ein Steinkreuz ersetzen. Ein dreiviertel Jahr malte er unermüdlich daran. Aber immer erst, nachdem die Sesamstraße zu Ende war - seine erste Bekanntschaft mit dem Westfernsehen. Da Telefonleitungen abgehört wurden und Gerd mittlerweile nicht mehr gemeldet war, prägte er ein neues Pseudonym: "Franklin".

"Zug der Freiheit"

Nach einem Liebesintermezzo in Plauen, wo sein Drang nach Freiheit ihn dazu bewog, drei Tage vor der Hochzeit abzuhauen, kam er durch die "Trapo" (Transportpolizei), die ihm eine Fahrkarte kauften, 1975 mit dem "Zug der Freiheit" nach Leipzig und dort in die Hippie- und Tramperszene wo er den Beinamen "Der Maler" bekam. Gerd antwortete damals "Nein - Volksmaler, denn meine Bilder kann sich jeder leisten." In Leipzig malte er auch das Abendmahlgemälde für ein evangelisches Gemeindehaus in Leipzig. Die Vorlage war da Vincis Abendmahl. Er fügte den verlorenen Sohn in die Gruppe der Jünger ein, in der Kleidung eines Trampers und Jesus wendete sich nur zu diesem. Das sorgte für Empörung. Als er sich an der Uni fürs Kunststudium bewarb, wurde er abgelehnt mit der Begründung: "Was soll man dem noch beibringen". Die Zeit des Trampens, des Musikmachens, des Kunstfilme-drehens brach an. Hier traf er auch seinen Jugendfreund Biene wieder, mit dem er damals die Schulband gegründet hatte. Dieser sagte immer über Gerd: "Du schickst Franklin mit 2 Mark Brot holen und er kommt nach einem dreiviertel Jahr wieder - ohne Brot". Die Szene traf sich in Cafés und Kneipen wie Café Corso und Moderna. Das Zeitgefühl lässt sich gut mit einem Zitat Gerds beschreiben: "Ich hab immer eine Kneipe gesucht, wo langhaarige Typen saßen. Da hatte ich immer gleich eine Penne". Hier wurden Platten getauscht, Pläne geschmiedet. Wer oben saß, gehörte zu den "Coolen", den "Bohemians und Künstlern". Wer unten saß war uncool. In derselben Straße in der Gerd untergekommen war, wohnte auch eine Kommune von Theologiestudenten, geexten Musikern, die sich um die entlassenen Häftlinge aus Bautzen kümmerten. Das führte Gerd zu Pfarrer Bock. Er sollte ihm helfen, wieder legal zu werden. Bock gab ihm eine Telefonnummer und meinte: "Sage nichts, lass anrufen." Danach fuhr Bock in den Urlaub und verstarb dort an einem Herzanfall beim Baden. Als Gerd wieder mal von der Polizei von der Straße weggefangen worden war, gab er auf dem Revier die Nummer an. Nach dem Anruf blickte er in versteinerte Gesichter und wurde aufgefordert sofort zu gehen.

Freiheitsdrang

Gerds Freiheitsdrang und seine DDR-Fluchtversuchspläne wuchsen. Außerdem wollte er seiner ersten Liebe wieder begegnen, die in den "Westen" gegangen war. Mit seinem Freund Biene entwarf er unermüdlich Flugzeuge nach dem Vorbild des Films: "Die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten" von 1975. Nachdem die Schmidt-Kommune aus Leipzig-Gohlis über den Wannsee nach jahrelangem Schwimm- und Wassertraining abgehauen waren, kam er auf die Idee, sich einen Taucheranzug zu basteln. Doch dieser Versuch sollte verhindert werden. 1977 lernte er eine wichtige Frau kennen, Marina Lorenz, und verliebte sich. Als sie beide gemeinsam Spremberg besuchten, gab es auf einer Party eine Polizeikontrolle - eine halsbrecherische Verfolgungsjagd auf den Dächern der Stadt folgte, doch Gerd konnte mit der mutigen Hilfe seiner Freunde entkommen. Das und Marina bewogen ihn dazu, sein Leben zu ändern und Normalität hineinzubringen, wieder "legal" zu werden. Seine politische Gesinnung verlor er jedoch nicht. Er wollte die Welt verändern.

Nachdem er sich mit Ernst Thälmann beschäftigt hatte, gründete er den "Bund der Gerechten", der für Freiheit, Gleichheit, Menschenfreundlichkeit und Brüderlichkeit stand. Die utopische Idee dahinter war, 1000 Gerechte zu finden und den Staat von Innen auszuhöhlen. Am 1. Mai sollten Tribünen in die Luft gesprengt werden, denn die SED hatte in seinen Augen die Arbeiter verraten. Gerds Großvater Bruno Sommer war selbst SPD-Mitglied. Doch als er mit einem dreizehnfachen Bauchschuss aus dem Krieg heimkehrte und sah, dass die Nazis von damals jetzt die Bonzen der SED waren, ging er in den Wald und verbrannte sein Parteibuch. Als er mit Marina zusammenzog wurden seine Pläne weniger radikal. Er wurde legal, ging geregelter Arbeit als KFZ-Mechaniker nach und zur Krönung bekamen die beiden zwei wundervolle Kinder. Nunmehr hatte er endlich Zeit, an seinen Erfindungen zu basteln. Im Keller entstanden Schiffe, an denen er neue Antriebsmotoren testete.

Nachteil des gutbürgerlichen Lebens

Ein Nachteil seines gutbürgerlichen Lebens war sein Einzug zur NVA. Dort blieb er allein durch Cleverness seinen Grundsätzen treu. Er war nicht nur die Anlaufstelle für alle, die einen gefälschten Urlaubsschein brauchten oder Bilder gemalt haben wollten, er leistete vor allem passiven Widerstand, um seinem Pazifismus treu zu bleiben. Aus seinem eigenen Gewehr fiel nie ein Schuss. Wenn er sich für Schießübungen eines lieh, schoss er nur in den Sand. Um nicht zu den lebensgefährlichen Manövern zu müssen, verbrannte er seine Hände am Auspuff, indem er seine beiden Hände auf den rotglühenden Auspuffkrümmer legte. Doch seine guten Fähigkeiten brachten ihn dennoch hin - als militärischer Berater. Er bekam oft Sonderauszeichnungen, die ihm sofort wieder aberkannt wurden - als Disziplinarstrafen für Aktionen wie zum Beispiel ein organisierter Streik innerhalb der Armee. Das brachte ihn ein ums andere Mal auch ins Armeegefängnis. Doch die Gitterstäbe hielten ihn nicht lange, denn Reservisten hatten das Gitter schon verbogen und Gerd nahm einen Vorschlaghammer und brach aus. Aktionen wie die, ledige Kameraden nach Hause zu schicken und die verheirateten Frauen heimlich an betrunkenen Offizieren vorbei übers Gelände in die Kaserne zu bringen, gehören zu den amüsanteren Streichen.

Politische Aktivität nach der NVA-Zeit

Nach seiner Zeit in der Armee malte er wieder unablässig in seinem heimischen Atelier und wurde politisch aktiv. Er nahm gemeinsam mit Marina an Gedenkmärschen teil wie dem Pleißemarsch. Gemeinsam mit Marina druckte er Flugblätter und Aufnäher und versuchte nach der Zusammenarbeit mit der Arbeitsgruppe 7, eine eigene Partei zu gründen. Es gab konspirative Treffen mit Ärzten, Schauspielern und Arbeitern, alle hatten Angst. Seine Gedanken hielt er auf Bildern fest. Eine Ausstellung in der Christengemeinschaft zeigte unter anderem ein Bild Jesus' "Kreuzigung", auf dem Jesus dargestellt ist mit Wunden von allen klassischen Waffen (Bogen bis MG) der Menschheit und das Bild "Der Paprikabomber", auf dem man die Räder eines Bombers sieht, eine schlafende Stadt - sowie eine rote und eine grüne Paprika die als "Bomben" abgeworfen werden. Außerdem ein Bild vom ältesten noch lebenden Kommunisten, das aus einem Wettstreit mit einem anderen Maler hervorging. Abgebildet war Paul Eichler, der Mitstreiter von Albis Köbis und Max Reichpietsch Straße beim Kieler Matrosenaufstand war. Er war der einzige, der begnadigt wurde, und der Mann von Marina Lorenz Großmutter Elfriede war. Am 14.4.1989 kam es dann zur Ausweisung aus der DDR nach dem Ausreiseantrag. Seinen Geburtstag verbrachte Gerd mit seiner Familie im Auffanglager Gießen - mit Apfelwein, den er nicht vom Begrüßungsgeld, sondern vom eigenen Geld gekauft hatte.

Empfohlene Zitierweise:
Sommer, Gerd: Langhaarig in der DDR, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/gerd-sommer-langhaarig-in-der-ddr.html
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