Dieser Eintrag wurde von Wolfgang Herchner (1928-2015) in Hamburg verfasst.
Zwei Jahre nach Kriegsende
Fast zwei Jahre waren schon vergangen seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Die Schrecken dieser barbarischen Zeit verblassten langsam. Immer noch waren wir umgeben von Bombentrümmern, die Menschen litten unter Hunger, Kälte, Krankheit, Verwundungen und Entbehrungen aller Art. Hoffnungslosigkeit zeichnete die Gesichter bis hin zur Verzweiflung. Trotzdem konnte man vereinzelt Blumen in den Trümmern sehen, hörte auch mal Vogelstimmen, eventuell sogar ein kleines Lachen hier und da.
Hunger
Nach dem Essen, wenn es denn welches gab, hatte ich den gleichen Hunger wie vorher, das ist aber bei einem 19jährigen Jungen wohl normal. Die blau gefärbte Wehrmachtsuniform war als einziges Bekleidungsstück für mich genau so selbstverständlich wie für die meisten von uns. Zwar waren Vaters ehemalige Frackschuhe den Anforderungen eines Schulhofes nicht hinreichend gewachsen, aber noch hielten sie zusammen. Nein, meine Erinnerung an diese Zeit ist aus einem anderen Grund alles andere als rosig.
Schule
Mein Dilemma war die Schule. Die Lehrer beklagten mangelhafte Leistungen und unsere vermeintliche Faulheit. Das hohe Niveau der nachfolgenden Klassen wurde uns andauernd vorgehalten, ja geradezu unter die Nase gerieben. Dieser Vergleich war ebenso ungerecht wie kränkend. Uns hatte man schließlich mit 15 Jahren als "große Hoffnung des Vaterlandes” zur Luftabwehr eingezogen. Durchwachte Nächte, militärische Übungen und häufiger Fliegeralarm während des Tages machten den vorgesehenen Schulunterricht in den Geschützbatterien zur Farce. Mit 16 Jahren zog man uns, "deutsche Männer”, als Soldaten ein und schickte uns ohne Waffen und bar jeder Kampferfahrung an die Ostfront. Schulunterricht war von Stund´ an ein Fremdwort. Aus zunächst amerikanischer, später englischer Kriegsgefangenschaft wurden wir halb verhungert und verlaust in eine völlig ungewisse Zukunft entlassen. Jetzt drückten wir wieder als "dumme Jungen” die Schulbank und versuchten händeringend, unregelmäßige Verben in Latein zu erinnern, oder den Lehrsatz des Pythagoras nachzuvollziehen.
Abgang von der Schule
Mir gelang das eine so schlecht wie das andere. Ein Schuljahr hatte ich nun mit Schummeln, Tricks und Abschreiben vom Nachbarn gerade noch retten können, aber es ging nicht so weiter. Dr. Albrecht, unser Klassenlehrer, nahm mich eines Tages beiseite und meinte: "Werden Sie doch Autoschlosser, praktisch veranlagt sind Sie ja”. Im Sommer dieses Jahres musste ich die Schule verlassen.
Wenn ich recht überlege, was mich im Laufe der Jahre die Autoreparaturen tatsächlich gekostet haben, hätte ich vielleicht doch dem Rat des Klassenlehrers folgen sollen.
Zur Person
Wolfgang Herchner wird 1928 in Hamburg geboren. Er ist Mitglied im Deutschen Jungvolk und der Hitlerjugen, im Zweiten Weltkrieg ab 1944 ist er als Luftwaffenhelfer und Sanitäter im Einsatz und gerät in Brandenburg in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Nach dem Abitur und einer Ausbildung zum Krankenpfleger und Masseur studiert er von 1949 bis 1955 Medizin und geht anschließend als Assistenzarzt in die USA. 1958 kehrt er zurück und absolviert die Facharztausbildung für Gynäkologie und Geburtshilfe. Bis 1992 arbeitet er in seiner eigenen Praxis in Hamburg. Seit 1993 engagiert er sich ehrenamtlich in der Volkshochschule Hamburg und in der Seniorenbetreuung. Außerdem nimmt er an Schreibgruppen teil, veröffentlicht seine Texte und stellt sie in Lesungen vor.
Empfohlene Zitierweise:
Herchner, Wolfgang: Frühjahr 1947, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/wolfgang-herchner-fruehjahr-1947.html
Zuletzt besucht am: 08.10.2024