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Carsten Stern: "Unter den Talaren..." - Staatsangehörigkeitsnachweis anno 1966

Dieser Eintrag wurde von Carsten Stern (*1942) im November 2007 in Hamburg verfasst.

Juristenausbildung in Gefahr

Kurzzeitig sah es so aus, als ob ich 1967 meine Juristenausbildung abbrechen müsste. Und das lag an meinem Großvater! Oder konkret: es lag an dem Umstand, dass er elternlos aufgewachsen ist und mein Vater nicht wusste, wo er gelebt hatte. Das hat mir 100 Jahre später die Diskussion mit der Behörde eingebracht, dass ich mein 2. Staatsexamen dann eben nicht machen könne. Diese Geschichte lief wohl auch unter der Überschrift: " Warum ist es in Deutschland zu der 68er Bewegung gekommen?"

Und diese Geschichte ging so:

1966 hatte ich in Hamburg mit meinem 1. juristischen Staatsexamen begonnen. Ich stellte nun frohgemut im Herbst 1966 bei der Justizbehörde (oder war es das Oberlandesgericht?) den Antrag auf Beginn des Referendardienstes. Die leere Zeit zwischen Examen und Referendardienst sollte so kurz wie möglich sein, schließlich musste ich Geld verdienen. Die 2 ½ jährige Referendarausbildung war vorgeschrieben und vorgeschrieben war auch, dass man Beamter auf Widerruf wurde; den Referendardienst konnte man also nur machen, wenn man zuvor verbeamtet worden war. Dazu bekam ich in der Justizbehörde ein langes Merkblatt, was ich alles beizubringen hatte, um Beamter zu werden. Unter anderem gehörte dazu der Nachweis, dass ich Deutscher sei. Ich hatte ja meinen Bundespersonalausweis. "Der interessiert uns nicht", erklärte man mir auf der Behörde, "wir brauchen eine Staatsangehörigkeitsurkunde, sonst werden Sie nicht zum Beamten ernannt." "Und wo kriege ich die her?" "Die kriegen Sie bei der Innenbehörde, am Johanniswall, und die kostet 10 Mark." Nun schön - zwar unverständlich, aber wenn die das so wollten...

Erfordernisse für die Ausstellung einer Staatsangehörigkeitsurkunde

Auf der Innenbehörde gab es ein langes Merkblatt über die Erfordernisse für die Ausstellung einer Staatsangehörigkeitsurkunde nach dem Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetz aus irgendwann in den 1870er Jahren - ich glaube in der unveränderten Fassung von 1892. Dies Gesetz regelte auch in der Bundesrepublik Deutschland der 60er Jahre den Erwerb einer Staatsangehörigkeitsurkunde. Ich musste nachweisen (nachweisen!), dass meine Vorfahren bis zurück 1871 zur Gründung des Kaiserreiches Deutsche gewesen waren und wo sie wie lange seit 1871 in Deutschland gelebt hatten. Und wenn nicht? Das stand nicht im Merkblatt. Mein Großvater mütterlicherseits war Däne gewesen, das wusste ich, und er war nach 1871 geboren, das wusste ich auch, und seine Eltern waren auch Dänen. Sie hatten zwar im damaligen Deutschen Reich gelebt, aber ich wurde verunsichert. Wofür sollte das von Belang sein? Ich war schließlich Deutscher, immer gewesen. Im Dritten Reich als Deutscher geboren zu sein und gelebt zu haben, das heißt doch schon was - aber diese Gedanken kamen mir erst einige Tage später bei der Diskussion mit der Behörde.

Ich schrieb also meine Eltern an und bekam Reisepässe und Auflistungen, wo ihre Eltern und Großeltern seit 1871 gelebt hatten. An meinen - mütterlichen - dänischen Vorfahren war nichts zu machen, sie waren dänisch. Aber bei meinen - väterlichen - Vorfahren gab es unvermutet Schwierigkeiten. Der Vater meines Vaters war in einem Ort geboren, der seit 1919 zu Polen gehörte. Dessen Eltern waren kurz nach der Geburt sehr jung an Schwindsucht gestorben. Mein Vater wusste nicht richtig, was dann mit seinem Vater geschehen war, wo er gelebt hatte, bei wem er gelebt hatte, wie lange er wo gelebt hatte, wo er zur Schule gegangen war. Alles was er wusste war, dass sein Vater bei irgendwelchen Tanten und Onkeln in Pommern und der Grenzmark aufgewachsen war. Das war die Zeit von 1871 bis 1891.

Mit diesen Informationen marschierte ich nun zur Innenbehörde, mit der festen Überzeugung, mit der Staatsangehörigkeitsurkunde wieder herauszukommen. Wie gesagt, das folgende spielte 1966 in Hamburg in der Bundesrepublik Deutschland, im sozialdemokratisch regierten Hamburg.

"Tja, was machen wir denn da?"

"So, ihr Großvater hat für Dänemark optiert. Tja, was machen wir denn da." So sinngemäß ließ sich der Beamte am Johanniswall in der Innenbehörde ein. Tja, was machen wir denn da? "Aber ich sehe ja gerade, das ist ja der Vater ihrer Mutter. Ja, die Mutter brauchen wir hier nicht bei der Staatsangehörigkeit. Das macht nichts mit diesem Großvater." Na, Gott sei Dank! Hoffentlich kommt im Examen nicht das Gleichberechtigungsgesetz und die Gleichbehandlung von Mann und Frau im Grundgesetz dran, Verfassung und Praxis klaffen da wohl etwas auseinander, dachte ich mir. Das war mir aber sehr recht. Dann gab es ja wohl kein Hindernis mehr - wenn nur der Vater zählte. Weit gefehlt. "Aber was haben wir hier denn?" so ungefähr ging es nun weiter. "Wo hat denn der Vater von ihrem Vater gelebt? Da fehlen ja fünf Jahre. Das muß genauer sein. So kann ich damit nichts anfangen." Wie bitte? Ich hatte richtig gehört. "Bis circa..." - diese vagen Angaben meines Vaters zum Aufenthalt von vor knapp 100 Jahren waren dem Herrn Amtsrat schlicht unzureichend - und Jahre ohne Nachweis! "Damit kann ich Ihnen keine Staatsangehörigkeitsurkunde ausstellen." Und dann? Mein Vater weiß nicht mehr. Und er kann auch nicht mehr fragen. Sein Vater ist lange tot. "Dann kriegen Sie keine Urkunde. Das ist dann Sache der Justizbehörde. Ich habe hier meine Vorschriften. Und die schreiben vor, dass die Aufenthaltsorte der Vorfahren seit 1871 im einzelnen anzugeben sind." Ich wurde einigermaßen wütend. 1966 in der Bundesrepublik Deutschland bekam ich eine Urkunde nicht, die ich für die weitere Ausbildung brauchte, nur weil mein Großvater 100 Jahre vorher von Verwandtschaft zu Verwandtschaft gereicht wurde? Das ist heute Polen. Wie soll ich da irgendetwas nachweisen? Und mein Großvater ist seit 30 Jahren tot. Das kann man doch nicht machen. Ich brauche diese Urkunde. Die schreibt die Justizbehörde vor. Ich könnte ja meine Referendarausbildung als Angestellter im öffentlichen Dienst machen. Könnte! Aber das sieht das Gesetz nicht vor. Das Gesetz kennt nur die Verbeamtung. Und ich bin Deutscher. Das kann doch hier nur eine Formsache sein. Ich bin seit meiner Geburt Deutscher. Und ich bin 1942 geboren - in Berlin. Was soll ich denn da noch nachweisen? So ungefähr versuchte ich diese Urkunde zu bekommen.

Kompromissformel

Einem Freund von mir ging es noch ärger. Er hatte einen dänischen Großvater - und das war die väterliche Seite. Was soll ich denn da noch nachweisen? Bei mir dachte der Mann hinterm Schreibtisch nach längerem Zögern schließlich nach. "Ja, wie ist es denn, wenn wir schreiben: "1871 bis 1891 verschiedene Orte in Preußen" - wenn ich das von ihrem Vater sehe: das wäre ja so richtig!?" Ja, wenn dem Menschen das nun auf einmal so ausreicht, bitte. Das war dann die Kompromissformel.

Unter den Talaren der Muff von 100 Jahren? Einige Jahre später, in den 70ern zur sozialliberalen Koalition, änderte man erst die Referendarausbildung - die konnte man nun auch als Angestellter machen, offenbar gab es doch manche Deutsche mit nichtdeutschen Vorfahren - und Ausländer, die hier Jura studierten, vor allem Griechen nach dem Obristenputsch in Griechenland. Und dann kassierte man schließlich diese Vorschriften des Reichs- und Staatsangehörigkeitsgesetzes ein, die ja im Vielvölkerstaat des Kaiserreiches ihre Berechtigung haben mochten - aber in der kleinen alten Bundesrepublik?

So hat also mein Großvater posthum dafür gesorgt, dass ich einige Zeit zweifelte, meine Ausbildung abschließen zu können. Familiengeschichte ist manchmal mehr als Hobby, sie war lebenswichtig.

Empfohlene Zitierweise:
Stern, Carsten: "Unter den Talaren..." - Staatsangehörigkeitsnachweis anno 1966, in: LeMO-Zeitzeugen, Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, URL: http://www.hdg.de/lemo/zeitzeugen/carsten-stern-unter-den-talaren.html
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