"Die Deutschen werden reisen wie noch nie, wenn sie erst wieder satt zu essen haben", prophezeit 1949 Carl Degener, Reisekaufmann und Touristikpionier aus Bremen. Er behält recht. Seit den fünfziger Jahren ist die Urlaubsreise für breite Bevölkerungsschichten fester Bestandteil im Jahresablauf.
In beiden deutschen Staaten hat Reisen trotz gegensätzlicher politischer und wirtschaftlicher Rahmenbedingungen hohen Stellenwert. "Reisefreiheit", 1989 von der Gesellschaft für deutsche Sprache zum "Wort des Jahres" gewählt, ist für viele Ausdruck unmittelbar erfahrener persönlicher Freiheit und Freiraum für individuelle Lebensqualität. Die Ausstellung des Hauses der Geschichte zeigt historische Wurzeln dieser außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte des Reisens, beleuchtet deutsch-deutsche Gemeinsamkeiten und Unterschiede, zeigt die Wechselwirkung von Reiseerlebnis, Alltagswelt und Lebensstil.
Reise zwischen "Markt" und "Plan"
Soziale Marktwirtschaft in der Bundesrepublik Deutschland und zentrale Planwirtschaft in der DDR haben unmittelbare Rückwirkungen auf den Tourismus. Anfang der fünfziger Jahre entsteht in Westdeutschland eine neue Wachstumsbranche: das Reisegewerbe. Preiswerte Pauschalreisen ermöglichen immer mehr Menschen die Erfüllung ihrer Reisewünsche. Massentourismus verändert die Ferienregionen. Reiseziele liegen in Deutschland, vor allem in Bayern. Reiseverkehrsmittel ist zunächst die Bahn, bald auch Motorrad, Motorroller und Kleinwagen. Urlauber suchen die "heile Welt" jenseits der Ballungszentren, die häufig noch die Spuren des Krieges tragen. In der DDR sind Erholung und Reisen Sozialgut. Deshalb errichten Staat, Betriebe und Freier Deutscher Gewerkschaftsbund (FDGB) mit hohen Subventionen ein Netz von Ferienheimen. Doch das Angebot bleibt knapp. Bei der Vergabe von Ferienplätzen werden kinderreiche Familien besonders berücksichtigt und politisches Engagement für den sozialistischen Staat belohnt.
Grenzübertritte
Wachsender Wohlstand in Ost und West macht Auslandsreisen möglich. Reiseziele belegen die Einbindung beider deutscher Staaten in unterschiedliche politische Blöcke. Das Mittelmeer ist für viele Westdeutsche besonders seit den sechziger Jahren beliebtes Ferienziel. Der Flugtourismus erlebt einen Aufschwung. Reisen prägt Konsum und Lebensstil. Musik und Mode greifen Urlaubseindrücke auf, Speisen und Getränke erinnern an den Urlaub im Süden.
"Kapitalistisches Ausland" bleibt DDR-Bürgern verschlossen. Auslandsreisen führen in die "Sozialistischen Bruderstaaten". Beliebtes Reiseziel ist die bulgarische Schwarzmeerküste. Nach dem Mauerbau 1961 werden Ferienorte in Bulgarien, Ungarn und der CSSR Stätten deutsch-deutscher Begegnungen.
Anders reisen
Deutsche aus Ost und West wollen ihren Urlaub individuell gestalten. In der Bundesrepublik entdecken seit den siebziger Jahren vor allem junge Menschen den "Abenteuertourismus" als Alternative zum herkömmlichen Pauschaltourismus. Statt Erholung suchen sie neue Erlebniswelten. Einschlägige Souvenirs bezeugen Weltläufigkeit und belegen den "feinen Unterschied". Bald stößt die neue Reiseform auch auf Kritik. "Sanfter Tourismus" heißt das Schlagwort, Schutz von unberührter Natur und fremder Kultur. In der DDR bildet Camping eine Nische für individuelle Urlaubsgestaltung jenseits der geordneten Ferienwelt in Betriebs- und Gewerkschaftsheimen. Auf Zeltplätzen in Polen und in der CSSR stehen Trabis mit Zeltaufbau, vollgepackt mit Lebensmitteln und Tauschgütern zum Erwerb von Waren des Gastlandes. Improvisation meistert Probleme bei Geldumtausch und unzureichender Versorgung mit Ausrüstungsgegenständen.
Reisen früher
Schlaglichtartig werden wichtige Etappen der Tourismusgeschichte vorgestellt. Im 19. Jahrhundert ist Reisen ein Privileg wohlhabender sozialer Schichten. Mit Reisebüros und Reiseführern entsteht moderne touristische Infrastruktur. Auch die Arbeiterbewegung fordert das Recht auf Erholung und gründet nicht-kommerzielle Touristenvereine, die von sozialreformerischen Ideen geprägt sind. Im NS-Staat steht Reisen im Dienst staatlicher Propaganda: "Kraft durch Freude" (KdF) organisiert Ausflüge und Reisen. Nach 1945 wird Jahresurlaub für Arbeitnehmer in beiden deutschen Staaten schrittweise verlängert, Urlaubsgeld tarifvertraglich vereinbart.