Grau und wolkenverhangen der Himmel, schwermütig und drückend die Szene mit einzelnen Menschen, deren Köpfe nur wenig ins Bild hineinragen. Im Weitwinkel hat Edward Serotta die Gruppe auf dem Weg zur Gedenkfeier im Konzentrationslager Buchenwald 1995 festgehalten. Ein schwerer Gang des Erinnerns - ein halbes Jahrhundert nach dem Holocaust. Ein suggestiv-bedrückendes und symbolisch-überzeugendes Bild, ein Leitbild zum Thema: Juden in Deutschland heute.
Jüdisches Leben in Deutschland nach dem Holocaust? Kann es heute einen jüdischen Alltag in diesem Land geben? Nur einige der wenigen Überlebenden entschieden sich 1945, in Deutschland zu bleiben. Trotz aller Schwierigkeiten im Land und Unverständnis von außen bildeten sich neue jüdische Gemeinden. Aus Osteuropa, aus Polen, Ungarn und der Tschechoslowakei emigrierten Juden nach Deutschland, heute kommen viele aus der ehemaligen Sowjetunion hinzu. Das vielfältige jüdische Leben in Deutschland vor 1933 ist unwiederbringlich verloren. Jüdisches Leben entsteht neu.
Für viele Menschen jüdischen Glaubens in der Welt sind Juden in Deutschland heute eine Paradoxie. Daß Juden im Land der Täter leben, arbeiten, ihren Glauben ausüben, verlangt immer wieder aufs neue nach Erklärung.
Edward Serotta ist diesem spannungsvollen Thema als Fotograf und Journalist nachgegangen. Ihm verdanken wir Buch und Ausstellung, ihm gilt darum besonderer Dank für seine jahrelange geduldige Recherche und einfühlsame Dokumentation. Ihm gelingt es, in der scheinbaren Normalität das Außergewöhnliche festzuhalten, den objektiven Befund mit dem subjektiven Empfinden zu verbinden. Seinen Bildern ist eine Atmosphäre eigen, die Fragen provoziert.
Gemeinsam mit dem Jüdischen Museum in Frankfurt zeigt das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland Edward Serottas Fotografien als Wanderausstellung. Buch und Ausstellung sind Denkanstoß für die Auseinandersetzung mit der Schuld der Tätergeneration und zugleich Mahnung für die Lebenden. Der Holocaust gehört zur Entstehungsgeschichte unserer Gegenwart - das Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland sieht es als seine besondere Aufgabe an, diese Erinnerung wach zu halten.