Mitte der 1960er Jahre wächst die Kritik am deutschen Bildungswesen. Unter Verweis auf ausländische Vorbilder fordert der Pädagoge Georg Picht (1913-1982) eine höhere Abiturientenzahl und bessere Unterrichtsbedingungen. Tiefgreifende Reformen in Forschung und Lehre erscheinen angesichts der notwendigen Anpassung an die Anforderungen eines modernen Wirtschafts- und Arbeitslebens als überfällig. Überfüllte Hörsäle und schlecht ausgestattete Universitäten symbolisieren eine Misere der Hochschulen die sich zu ist einer der Ursachen für die Entstehung der Studentenbewegung auswächst. Der Bildungsreform wird hohe Priorität eingeräumt. Bund und Länder gründen 1965 als beratendes Expertengremium den Deutschen Bildungsrat, der umfangreiche Reformvorschläge erarbeitet.

Der "Bildungsnotstand" an den Schulen wird vor allem auf ungenügende Schulausstattung, fehlendes Lehrpersonal und schlechte Lehrerausbildung zurückgeführt. Picht und andere Kritiker prophezeien einen Mangel an qualifiziertem Nachwuchs und fürchten um die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft. Aus anderen Motiven fordert der Soziologe Ralf Dahrendorf (1929-2009) eine Reform des Bildungswesens. Er definiert Bildung als ein "allgemeines Bürgerrecht" und fordert die Verwirklichung dieses sozialen Grundrechts, denn nur so könne Chancengleichheit in der Gesellschaft hergestellt werden.

In der Tat besteht eine deutliche Unterrepräsentanz von Arbeiterkindern und Mädchen an den Gymnasien und ein Bildungsgefälle zwischen Stadt und Land sowie zwischen katholischen und protestantischen Regionen. Mit einem Anteil von nur 5 Prozent sind Arbeiterkinder auf Universitäten extrem unterproportional vertreten. Experten, Gewerkschaften und Studentenverbände treten daher für eine grundlegende Reform des Schulwesens ein. Ihre Forderungen finden in der Politik Gehör. Am 15. Juli 1965 wird (analog zum 1957 gegründeten Wissenschaftsrat) durch ein Abkommen zwischen Bund und Ländern als beratendes Expertengremium der Bildungsrat gegründet, der Pläne zur Strukturreform des Bildungswesens erarbeiten soll.

(ahw, reh) © Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland
Stand: 05.05.2003
Text: CC BY NC SA 4.0

Empfohlene Zitierweise:
Hinz-Wessels, Annette/Haunhorst, Regina: Bildungsnotstand, in: Lebendiges Museum Online, Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland,
URL: http://www.hdg.de/lemo/kapitel/geteiltes-deutschland-modernisierung/bundesrepublik-im-wandel/bildungsnotstand.html
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